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3. Politisches System

3.3. Die Türkische Große Nationalversammlung

Die Legislative im politischen System der Türkei wird durch das Einkammernparlament, die Türkische Große Nationalversammlung, verkörpert. Diese zählt 550 Mitglieder, die jeweils auf fünf Jahre direkt von der türkischen Bevölkerung gewählt werden. Das türkische Wahlsystem ist ein reines Verhältniswahlrecht, das allerdings durch eine Zehn-Prozent-Sperrklausel geprägt wird. Fallen auf eine Partei weniger als zehn Prozent der Wählerstimmen, wird diese Partei auf nationaler Ebene nicht berücksichtigt.


Die Nationalversammlung, Quelle: Wikimedia

Von den 550 Parlamentsmandaten fällt jeweils ein Mandat auf eine der 81 Provinzen. Der Kandidat, der in seiner Provinz die meistens Wählerstimmen auf sich vereinen kann, zieht direkt ins Parlament ein, vorausgesetzt seine Partei hat die Zehn-Prozent-Klausel übersprungen (Ausnahme: unabhängige Kandidaten, siehe unten). Die übrigen 467 Mandate werden je nach Einwohnerzahl auf die Provinzen verteilt. Davon profitieren in erster Linie die bevölkerungsreichen, städtisch geprägten Provinzen im Südwesten der Türkei.

Grundsätzlich herrscht in der Türkei Wahlpflicht, die jedoch gegen eine Strafgebühr von ca. 13 Euro umgangen werden kann. Aktiv wählen dürfen alle türkischen Bürger über 18 Jahren, außer Soldaten und Garnisonsoffizieren, Strafgefangenen, die wegen vorsätzlich begangener Straftaten verurteilt wurden, beschränkt Geschäftsfähige und Personen, die vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen sind. Wer gewählt werden möchte, muss mindestens 30 Jahre alt sein, einen Grundschulabschluss vorweisen können und – im Falle der Männer – den Wehrdienst abgeleistet haben.

Als Legislativorgan besteht die zentrale Aufgabe der Türkischen Großen Nationalversammlung darin, Gesetze zu verabschieden, aufzuheben und zu ändern. Darüber hinaus kann das türkische Parlament die Verfassung ändern. Ferner fungiert sie als Kontrollorgan des Ministerrats und kann diesem die Kompetenz zum Erlass von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft übertragen. Zudem verabschiedet das Parlament den Staatshaushalt und ratifiziert völkerrechtliche Verträge. Auf Vorschlag eines Zehntels der Nationalversammlung kann ein parlamentarisches Ermittlungsverfahren gegen den Ministerrat und den Ministerpräsidenten eröffnet werden. Schließlich zählt laut Artikel 92 der türkischen Verfassung die Ausrufung des Kriegsfalls und die Entsendung türkischer Streitkräfte ins Ausland zu den Aufgaben der Großen Türkischen Nationalversammlung.

Die traditionelle Aufteilung des türkischen Parteiensystem in drei Blöcke (konservativ, links und traditionell-islamistisch) ist spätestens seit den Parlamentswahlen 1999 nicht mehr möglich, da die türkischen Parteien weniger von ihren Programmen als vielmehr von charismatischen Führungspersönlichkeiten profitieren.

Das derzeitige Parlament, das aufgrund der Streitigkeiten um die Wahl des Präsidenten am 22. Juli 2007 in vorgezogenen Neuwahlen gewählt wurde, setzt sich wie folgt zusammen: die Regierungspartei von 2002-2007, die AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“), wurde mit einem Stimmenanteil von 46,6 Prozent und 340 Abgeordneten wieder stärkste Fraktion im türkischen Parlament. Allerdings ist sie bei Abstimmungen, die eine Zweidrittel-Mehrheit erfordern, wie zum Beispiel der Wahl des Staatspräsidenten oder bei manchen Gesetzesvorhaben, auf die Stimmen der Opposition angewiesen. Programmatisch lässt sich die AKP als islamisch-konservative Partei einordnen, sie selbst bezeichnet sich als „dem Zentrum angehörend und konservativ“.

Stärkste Oppositionspartei ist die sozialdemokratische CHP („Republikanische Volkspartei“) mit 98 Abgeordneten und einem Stimmenanteil von 20,8 Prozent. Die CHP sieht sich selbst als Verfechterin des Kemalismus und ist stark vom Militär beeinflusst.

Daneben konnten die MHP („Partei der Nationalistischen Bewegung“) mit 70 Parlamentssitzen und einem Stimmenanteil von 14,2 Prozent und die DTP („Partei der demokratischen Gesellschaft“) mit 20 Parlamentssitzen und 4 Prozent der Stimmen ins Parlament einziehen. Die DTP ist eine kurdische Partei und schaffte es als solche, erstmals Abgeordnete in das türkische Parlament zu entsenden.

Die DSP („Partei der demokratischen Linken“) ist mit 13 Abgeordneten ebenfalls in der Türkischen Großen Nationalversammlung vertreten. Die ultranationalen Parteien BBP („Partei der Großen Einheit“) und DYP („Partei des rechten Weges“) sind mit jeweils einem Abgeordneten und die ÖDP („Partei der Freiheit und Solidarität “) mit zwei unabhängigen Kandidaten im Parlament vertreten. Um die Zehn-Prozent-Hürde, die für parteilose Kandidaten nicht gilt, zu umgehen, traten die Kandidaten der DSP, DYP und ÖDP zwar als „unabhängige“ Kandidaten an, faktisch werden sie jedoch von einer Partei unterstützt und vertreten diese nun auch im Parlament. Zwei Sitze im Parlament sind wegen eines Todesfalls und dem Ausscheiden Abdullah Güls nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten nicht besetzt.

Während die Zehn-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen 2002 nur der AKP (34,4 Prozent) und der CHP (19,4 Prozent) den Einzug ins Parlament ermöglichte, hat das neue Parlament an Parteienvielfalt und Repräsentativität gewonnen. Während in der Legislaturperiode 2002-2007 nur 45 Prozent der Wählerstimmen im Parlament vertreten waren, sind es nun 85 Prozent des Wählerwillens. Dies resultiert nicht direkt aus einem erhöhten Stimmenanteil der Oppositionsparteien, sondern aus strategischen Parteizusammenschlüssen (CHP und DSP) und dem Aufstellen „unabhängiger“ Kandidaten. Die „unabhängigen“ Kandidaten können sich ab einer Größe von 20 Abgeordneten als Fraktion im Parlament wieder zusammenschließen. Durch dieses taktische Vorgehen konnte die Zahl der im Parlament vertretenen Oppositionsparteien zwar erhöht werden, ein Gegengewicht zur überstarken Regierungspartei stellen sie jedoch nicht dar. Denn obwohl die AKP an Parlamentssitzen verloren hat, konnte sie ihre Wählerschaft um 12,2 Prozent steigern. Die Beliebtheit Erdogans, aber auch die Etablierung der AKP als Partei der Mitte, die eine breite Wählerschaft sprechen möchte, dürften der Grund für ihren Wahlerfolg sein.

Der Frauenanteil des türkischen Parlaments beträgt nach den Wahlen 2007 9,2 Prozent. Somit sind 51 der 548 Parlamentsabgeordneten weiblich. Das ist der höchste Frauenanteil des Parlaments in der Geschichte der Türkei. Zum Vergleich: in der Legislaturperiode 2002-2007 lag der Frauenanteil mit 24 Parlamentssitzen bei nur 4,2 Prozent. Trotz dieser Fortschritte liegt die Türkei im europaweiten Vergleich weit zurück. In Deutschland sind bereits 31,6 Prozent der Parlamentsabgeordneten Frauen (Wahljahr 2005), beim EU-Spitzenreiter Schweden sind es sogar 45,5 Prozent. Nur Ungarn hat mit 9,1 Prozent einen noch geringeren parlamentarischer Frauenanteil als die Türkei (EU-Durchschnitt: 24,2 Prozent, Welt-Durchschnitt: 14 Prozent).

Links & Downloads

Türkisches Parlament

Heinz Kramer: Die Türkei auf dem Weg in die nach-kemalistische Republik, SWP-Aktuell, September 2007

Jan Šenkyř: Die Türkei nach den Parlamentswahlen: Zurück zur Normalität?, KAS 08/2007

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