5. Gesellschaft und Soziales

5.2. Die Stellung der Frau

Die kemalistischen Reformjahre bedeuteten neben der Modernisierung der Gesellschaft auch die Verbesserung der Stellung der Frau. Mit den Reformen Atatürks ging die Propagierung des kemalistisch-nationalen Frauenbilds einher, das weiblichen Bevölkerungsteilen Zugang zu Bildung und Beruf eröffnete. 1924 wurde die Grundschulpflicht für Mädchen eingeführt, 1926 die Polygamie abgeschafft. 1934 erhielten die Frauen das passive und aktive Wahlrecht auf nationaler Ebene. Ferner wurden die Frauen rechtlich gesehen in der Erbfolge, im Fürsorgerecht sowie bei Eheschließung und Scheidung gleichberechtigt. Im Bildungssektor konnte die Türkei Anfang der 80er Jahre beeindruckende Zahlen vorweisen: Das Land wies den weltweit drittgrößten Anteil an weiblichen Hochschulabsolventinnen auf (43 Prozent).


Straßenszene in Istanbul, Foto: Europäische Kommission

Die Emanzipationsbewegung Europas machte auch vor der Türkei nicht Halt. Zwischen Mitte der achtziger und Mitte der neunziger Jahre wurde ein Großteil der heute bestehenden Frauenorganisationen ins Leben gerufen. Berühmtestes Beispiel für den türkischen Feminismus ist die Organisation „Frauen für die Menschrechte der Frauen“. Daneben wurden zahlreiche Frauenhäuser, -zeitschriften und -plattform gegründet.

Dennoch blieb diese positive Entwicklung auf die westlichen Städte der Türkei beziehungsweise auf die weibliche, türkische Elite beschränkt. In den dörflichen Gemeinschaften herrschen weiterhin traditionelle Wertvorstellungen und Rollenverteilungen. Ehrenmorde, Zwangsheirat und sonstige Gewalt gegen Frauen sind gerade im Südosten immer noch weit verbreitet. Da viele dieser Taten nicht bekannt werden beziehungsweise erst öffentlich werden, wenn medizinische oder polizeiliche Intervention nötig ist, gibt es kaum konkrete Zahlen. Die Zahl der Opfer wird von verschiedenen Organisationen und Experten auf 500 bis 5000 in den letzten fünf Jahren (2002-2007) geschätzt.

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ESI-Studie: Geschlecht und Macht in der Türkei.
Feminismus, Islam und die Stärkung der türkischen Demokratie

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