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6. Militär

Das Militär nimmt in der Türkei eine mächtige Rolle als politischer Akteur ein. Schon die Präambel der Verfassung, die die türkischen Streitkräfte als untrennbaren Bestandteil der türkischen Nation bezeichnet, zeugt vom Ansehen des Militärs. Die Bevölkerung sieht in den Streitkräften „die einzig funktionsfähige, gut ausgebildete, nicht korrupte und vertrauenswürdige Institution in der Türkei“. In einer Umfrage aus dem Jahr 2000 unterstützten 66 Prozent der türkischen Bevölkerung die Aussage: „Man sollten einen starken Führer haben, der sich nicht um ein Parlament oder Wahlen kümmern muss“. Diese Äußerung spiegelt das Demokratieverständnis vieler Türken wider, die zwar Demokratie als die beste Staatsform ansehen, jedoch eine starke Rolle der Generäle wünschen.


Türkische Militärparade, Quelle: Wikimedia

Die enge Verbundenheit zwischen Republik und Streitkräften begründet sich aus deren Verdiensten in den türkischen Unabhängigkeitskriegen unter der Führung Mustafa Kemals. Seither gilt das Militär als Verfechter und Wächter über die kemalistischen Prinzipien und damit als Verehrer des Staatsgründers Atatürk.

Nach der Gründung der Republik traten die Befreiungskämpfer in hoher Zahl in die Partei Mustafa Kemals, die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), ein. Damit findet bereits die CHP als erste politische Partei der Türkei ihre Wurzeln in den militärischen Führungskreisen der türkischen Befreiungskriege. In den Jahren 1923 bis 1950 herrschte die CHP im Einparteiensystem, erhob den Kemalismus zum Verfassungsprinzip und damit zu einem wichtigen Bestandteil des türkischen Nationalverständnisses.

Im Laufe der Geschichte der türkischen Republik schritt das Militär in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen mehrmals ein und rechtfertigte sein Eingreifen stets mit der Wahrung der Einheit der Nation. Unter der Regierung Menderes (1950-1960), die anfangs überaus erfolgreich und vier Wahlperioden lang die politische Führung der Türkei innehatte, kam es in der Folge politischer Fehlentscheidungen und einer negativen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu Demonstrationen und Protesten in der Bevölkerung. Der daraufhin vom Ministerrat verhängte Ausnahmezustand rief das Militär auf den Plan, das am 27. Mai 1960 in Form des „Komitees für Nationale Einheit“ unter Cemal Gürsel die politische Macht übernahm.

Das Militär sah nach diesem ersten Putsch die Notwendigkeit, sich Gegengewicht zur Regierung zu positionieren. Der Nationale Sicherheitsrat, den die Militärregierung 1961 als Verfassungsorgan ins Leben rief, sollte diese Aufgabe übernehmen. Dieser sichert den Streitkräften die Einflussnahme auf die Politik. Der Nationale Sicherheitsrat übt gegenüber dem Ministerrat eine beratende beziehungsweise empfehlende Funktion aus und setzt sich aus Vertretern des Militärs und der Politik zusammen: Von militärischer Seite sind die Kommandeure der drei Teilstreitkräfte (Heer, Marine, Luftwaffe), der Gendarmerie und der Generalstabschef vertreten, der politische Bereich wird repräsentiert durch den Ministerpräsidenten, den Innen-, Verteidigungs- beziehungsweise Außenminister sowie den Staatspräsidenten. Sie beraten über die „nationale Sicherheit“, die über das „Wohl des Volkes“ definiert wird. Ob diese bedroht ist, entscheiden die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats selbst, was zu einer weiten Auslegung des Begriffs führen kann.

Am 12. März 1971 kam es erneut zu einem Eingreifen des Militärs in die Politik. Dieses ist jedoch nicht mit dem Putsch von 1960 vergleichbar, sondern äußerte sich in Form eines „Memorandums“, einer „Denkschrift“, des Generalstabs an die Regierung unter Süleyman Demirel. Darin forderten die Streitkräfte den Rücktritt der Regierung, der kurz darauf erfolgte. Grund für das erneute Eingreifen waren die liberalen Reformen (Autonomie der Hochschulen, Streikrecht der Arbeitnehmer, etc.), die das Militär schnellstmöglich aufhob oder einschränkte, da es dadurch die Einheit des Landes gefährdet sah. Im Zuge dieses Vorgehens gegen die liberalen Kräfte im Lande wurden mehrere Tausend Journalisten, Intellektuelle und Politiker verhaftet, die mit dieser politischen Bewegung sympathisierten.

Auch die dritte militärische Intervention vom 12. September 1980, erneut gegen die Regierung unter Süleyman Demirel, wird als Putsch gegen die wieder erstarkte politische Linke sowie den zunehmenden Einfluss pro-kurdischer Kräfte bewertet. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, zielten die Streitkräfte unter dem Postulat des Kemalismus auf die Stärkung der nationalen Integrität. Die drastischen Maßnahmen der militärischen Führer umfassten ein Verbot aller politischen Parteien, Studentenorganisationen und Vereine, um die Gesellschaft, insbesondere die Jugend, zu entpolitisieren und stattdessen an konservative Werte und an den türkischen Nationalismus zu binden. Ferner wurde der militärische Einfluss im Nationalen Sicherheitsrat gestärkt, beispielsweise dadurch, dass sein Generalsekretariat durch einen geheimen Erlass zu einer Art Gegenregierung ausgebaut wurde.

Am 28. Februar 1997 legte der Nationale Sicherheitsrat der damaligen Regierung Erbakan (1996-1997) eine Empfehlung vor, um konkrete Maßnahmen gegen den Einfluss des Islams zu ergreifen. Diese Empfehlung richtete sich letztendlich gegen die Regierung unter Erbakan selbst, denn dieser gehörte der islamistischen Wohlfahrtspartei an, die 1998 verboten wurde. Erbakan kam den Forderungen des Rates nicht, trat allerdings wenige Monate später zurück. Die Ereignisse von 1997 werden als „sanfte“ Intervention oder „kalter“ Putsch bezeichnet, da das Militär ohne Waffengewalt die politische Macht übernahm.

Die Nominierung Abdullah Güls zum Kandidaten der Regierungspartei AKP für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 erregte vor allem bei den säkularen Kräften der Türkei Anstoß, allen voran bei CHP und dem Militär. Diese befürchteten eine schleichende Islamisierung der Türkei und erklärten ihre Bereitschaft, das säkulare System zu verteidigen. Allerdings blieb eine erneute militärische Intervention aus. Doch am 27. April 2007 veröffentlichte das Militär eine Nachricht im Internet, in der Generalstabschef Yasar Büyükanit erklärte, die laizistische Ordnung der Türkei sei durch Abdullah Gül als Präsident extrem gefährdet. Analysten bezeichneten die Botschaft als Aufforderung an die Regierung der AKP, ihren Präsidentschaftskandidaten Gül zurückzuziehen. Yasar Büyükanit gilt als vehementer Verfechter des Kemalismus und verbindet diesen in seine Reden und Äußerungen stets eng mit dem türkischen Nationalismus. Darüber hinaus wirft er der AKP „religiösen Fundamentalismus“ vor und unterstellt der EU eine „geheime Agenda“, mit der diese unter dem Denkmantel der Demokratie den Einfluss des Militärs mindern wolle.

Die Veröffentlichung der Internetbotschaft wurde von der EU heftig kritisiert. Der Türkei-Vertreter der EU-Kommission, Hans-Jörg Kretschmer, mahnte die Streitkräfte an, sich aus dem politischen Geschehen der Türkei herauszuhalten. Ähnlich äußerste sich auch der EU-Erweiterungskommissar Oli Rehn, der vom Militär eine Einhaltung der demokratischen Spielregeln forderte. Ein Einschreiten der Militärs in die Politik habe negative Auswirkungen auf den EU-Beitrittsprozess.

Der Einfluss und Status des Nationalen Sicherheitsrats hat seit dessen Reform 2001 stark abgenommen. Seitdem sehen sich die militärischen Vertreter einem Übergewicht von Politikern gegenüber. Auch die Wahl einer Zivilperson zum Vorsitzenden (2004) schwächte die militärische Färbung des Nationalen Sicherheitsrates ab.

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