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2. Geschichte

2.3. Die Türkei nach der Ära Atatürk

Die politische Geschichte der türkischen Republik nach der Ära Atatürk zeichnet sich vor allem durch ihre zahlreichen Regierungen und die damit verbundene politische Instabilität aus: Von 1923 bis 2007 hatte die Republik sechzig Regierungen. Bis auf die Regierung unter Ismet Inönü (1923-1924; 1927-1937; 1961-1965) und Adnan Menderes (1950-1960) konnte sich kein Regierungschef länger als drei Amtszeiten durchgehend an der Macht halten, viele Ministerpräsidenten waren nur wenige Monate im Amt. Dafür übernahmen einige Politiker nach Unterbrechungen nochmals das Amt des Ministerpräsidenten: Zum Beispiel Süleyman Demirel (1965-1971; 1975-1977; 1977-1978; 1979-1980; 1991-1993), der insgesamt siebenmal der türkischen Regierung vorstand, dies jedoch in fünf verschiedenen Perioden. Bülent Ecevit stand insgesamt fünfmal der Regierung vor, dies jedoch bis auf 1999-2002 mit zeitlichen Unterbrechungen. Eine Vielzahl innenpolitischer Krisen, in deren Folge Neuwahlen ausgerufen wurden, erhöhten zudem die Anzahl der türkische Regierungen: Allein in den siebziger Jahren wechselten sich dreizehn Regierungen ab. Dazu kamen drei militärische Interventionen (1960; 1971; 1980), unter denen die jeweiligen Regierungen – zweimal unter Demirel und einmal unter Menderes – aufgelöst wurden.

Als Stolperstein beinahe aller türkischen Regierungen erwiesen sich die Herausforderungen der türkischen Wirtschaft. Diese war sehr schwach entwickelt und drohte immer wieder einzubrechen. Dies ist vor allem auf die Umstellung der türkischen Ökonomie von Landwirtschaft auf Industrie zurückzuführen und zeigte sich in Form einer hohen Arbeitslosigkeit und darauf folgenden sozialen Unruhen und Protesten. Die Lösungsansätze für diese Probleme wechselten zwischen planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Modellen. Doch auf Grund der ständigen Regierungswechsel fehlte beinahe allen Konzepten die nötige politische Stabilität, um Erfolge zeigen zu können.

Die außenpolitische Anlehnung an den Westen in den fünfziger Jahren führte zu den ersten demokratischen Reformen. 1945 wurde die Gründung politischer Parteien erlaubt. Bereits 1950, bei den ersten wirklich freien Wahlen, musste die bis dahin herrschende Einheitspartei CHP die Regierung an die DP („Demokratische Partei“) abgeben. Die Regierungsperiode der DP unter Adnan Menderes (1950-1960) verlief zunächst sehr erfolgreich. Dabei konzentrierte sich die DP auf die Modernisierung der Landwirtschaft und eine Liberalisierung der Wirtschaft. Dies führte jedoch zu hoher Arbeitslosigkeit im landwirtschaftlichen Sektor und einem Einbruch der türkischen Wirtschaft, in dessen Folge soziale Unruhen auftraten. Daraufhin übernahm das Militär am 27. Mai 1960 erstmals die Macht, löste die DP auf und ging mit aller Härte gegen deren Führungsriegen vor: selbst Ministerpräsident Menderes wurde hingerichtet.

Bei den nächsten Wahlen im Jahr 1961 wurde die CHP wieder stärkste Partei, musste jedoch mit der Nachfolgepartei der DP, der AP („Gerechtigkeitspartei“) unter Süleyman Demirel, eine Koalition eingehen. Die nächsten Jahre zeichneten sich durch immer wieder wechselnde Koalitionsregierungen aus, bis 1965 Demirel mit der AP die Mehrheit der Wählerstimmen erzielen konnte. Doch Demirel vermochte die zunehmenden sozialen Probleme nicht zu lösen, sodass die linke Bewegung, die Verstaatlichung und Planwirtschaft forderte, starken Zulauf erhielt. Dies rief erneut die Militärs auf den Plan, die am 12. Februar 1971 zum zweiten Mal putschten.

Die folgenden Jahre waren von der Entwicklung rechter Parteien geprägt. Grund für diesen politischen Rechtsruck waren Befürchtungen in rechts-konservativen Kreisen, westliche und kommunistische Einflüsse würden zunehmend die türkische Kultur zurückdrängen und dadurch die innere Stabilität der Türkei gefährden. Die unbeständige politische und wirtschaftliche Lage Ende der sechziger Jahre schienen diesen Annahmen Recht zu geben. Die beiden wohl erfolgreichsten Parteigründungen dieses politischen Spektrums waren zu dieser Zeit die der „Nationalen Arbeitspartei“ (MHP) und der „Nationalen Heilspartei“ (MSP), mit der die CHP unter Bülent Ecevit nach ihrem Wahlsieg 1973 eine Koalition bilden musste. Im Jahr 1974 übernahm die CHP unter Süleyman Demirel erneut die Regierung. Insgesamt dreimal bildete er mit Unterstützung der MHP beziehungsweise der MSP die Koalition der „Nationalen Front“. Der Name „Nationale Front“ stand für die Programmatik dieser Koalition, die sich für die Bewahrung und Stärkung der türkischen Kultur einsetzen wollte. Dabei fuhren besonders die rechten Koalitionspartner, MHP und MSP, einen harten Kurs gegen alle linken sowie kurdischen Einflüsse.

Herausforderung für diese Regierungskoalition war jedoch allen voran die wirtschaftliche Schwäche der Türkei. Die von den Militärs 1961 beschlossene Wirtschaftsplanung wurde aufgegeben, die Privatwirtschaft gefördert. Mit finanzieller Unterstützung und steuerlichen Begünstigungen sollte die türkische Wirtschaft an den Weltmarkt angepasst werden. Doch diese wirtschaftpolitische Orientierung und die Öffnung der türkischen Ökonomie konnten die Unruhen im Land nicht besänftigen, sodass am 12. September 1980 das Militär zum dritten Mal intervenierte. Die von der Militärregierung eingeleiteten Schritte nahmen dieses Mal besonders drastische Form an. Neben dem Verbot sämtlicher Parteien, Vereine und sonstiger bürgerlicher Vereinigungen wurde eine neue, bis heute gültig Verfassung erlassen (1982), die in einzelnen Bereichen, wie beispielsweise dem Hochschulwesen und den Medien, bürokratische, vom Parlament unkontrollierbare Apparate schuf. Zudem wurde gegen eine Vielzahl prominenter Politiker ein lebenslanges Politikverbot verhängt, das erst 1987 durch eine Volksabstimmung wieder aufgehoben werden konnte.

Die nächsten Wahlen fanden 1983 statt, bei der die „Mutterlandspartei“ (AnaP) von Turgut Özal die Mehrheit der Wählerstimmen für sich gewinnen konnte. Dieser führte den wirtschaftpolitisch orientierten Kurs zwar weiter, konnte jedoch keine Erfolge vorweisen: Stattdessen kämpfte er mit einer Inflation von 100 Prozent, fallenden Löhnen und einer hohen Staatsverschuldung.

Die Aufhebung des Politikverbots von 1982 führte zu einer Vielzahl von Parteigründungen und einer neuen Vielfalt der türkischen Parteienlandschaft. Diese zog jedoch gleichzeitig eine Zersplitterung der Parteien nach sich. Ecevit gründete die „Demokratische Linkspartei“ (DSP), Demirel die „Partei des Rechten Weges“ (DYP), Erbakan die „Wohlfahrtspartei“ (RP). Darüber hinaus gewann die MHP immer mehr an Stärke. Zwischen den Führern der zahlreichen Parteien traten immer wieder Spannungen auf und machten damit eine effektive Politik in den folgenden Jahren unmöglich. Keine Koalition konnte sich auf ein gemeinsames Programm einigen, Korruption sowie Ämterpatronage hielten Einzug in Politik und Verwaltung. Auch die Regierungskoalition zwischen DYP und der SHP (einer Tochterpartei der CHP) unter der ersten und bis heute einzigen Ministerpräsidentin, der Wirtschaftsprofessorin Tansu Ciller (DYP, 1993-1996), zerfiel 1996 unter anderem auf Grund von unterschiedlichen Ansichten bezüglich des Kurdenkonflikts. Auch mit ihrem wirtschaftlichen Privatisierungsprogramm war Ciller in der eigenen Partei auf Ablehnung gestoßen.

Das Militär intervenierte nach 1980 zwar nicht mehr, allerdings erwies es sich mehrmals, unter anderem auch in der Koalitionskrise 1993, als Schlichter im Streit und als Führer, der die türkische Politik in Zeiten politische Instabilität und Unprofessionalität der führenden Politiker weiter lenkte. Damit verdienten sich die Militärs das Vertrauen der Bevölkerung, die bis heute in den Streitkräften den Garanten für innere Stabilität verkörpert sieht.

Im Gegensatz dazu verschlechterte sich das Image der Parteien zusehends. Die achtziger und neunziger Jahre erwiesen sich als Geburtsstunden der ersten türkischen, bürgerrechtlichen Vereinigungen und Menschenrechtsorganisationen, wie zum Beispiel des „Menschenrechtsvereins“ (IHD, 1986). Auch die Frauenbewegung gewann an gesellschaftlicher Akzeptanz und Aufmerksamkeit. Auf Arbeitgeberebene organisierten sich ebenfalls die Interessen, zum Beispiel in Form des „Türkischen Unternehmerverbandes“ (Tüsiad, 1971) und des „Unabhängigen Unternehmerverbandes“ (Müsiad, 1990).

Mit dem Erdrutschsieg der AKP („Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt“) bei den Parlamentwahlen läutete das Jahr 2002 eine neue Epoche ein. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwies sich als Motor der EU-Beitrittsverhandlungen und trieb die dafür nötigen politischen und wirtschaftlichen Reformen voran. Im Jahr 2007 stürzte die Türkei auf Grund der Diskussionen um die Kandidatur Erdogan beziehungsweise seines Außenministers Gül zur Präsidentschaftswahl abermals in eine politische Krise, bei der eine mögliche vierte Intervention des Militärs im Raum stand. Doch bei den darauf folgenden Parlamentswahlen im Jahr 2007 konnte die AKP Erdogans ihren Erfolgskurs erneut bestätigen.

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