"Europa ist verletzbarer als andere Kontinente"
Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld zur Krise der Europäischen Union
Interview. Politikwissenschaftler und EU-Spezialist Weidenfeld fordert von der EU globale Verantwortung.
10.09.2005 · Die Presse
Werner Weidenfeld: Es gibt ein gewisses Ermüdungssyndrom in der Europäischen Union nach den Fortschritten der letzten 15 Jahre, in der wir Geschichte im Zeitraffer erlebt haben. Es ist deshalb nachvollziehbar, warum der Kontinent einen gestressten Eindruck macht. Wir haben über lange Zeit nicht die Grundsatzfragen des Selbstverständnisses von Europa, der politischen Kultur systematisch diskutiert.
Die Quittung bekommen wir nun. Und wir haben ein strategisches Defizit in unserem Denken. Die Strategiedebatte ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Deshalb haben wir kein präzises europapolitisch-strategisches Profil. Und als weiteren Punkt muss man die innenpolitischen Krisen in vielen Mitgliedstaaten sehen: Eine Erosion der machtpolitischen Infrastruktur, eine Erosion des Parteienstaates. Das führt dazu, dass die zentralen europapolitischen Akteure - nämlich die Regierungschefs in Staaten wie Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Belgien - geschwächt sind.
Die Presse: Die innenpolitische Debatte zu Europa wird überall von einer Grundstimmung in der Bevölkerung geprägt, die sehr skeptisch ist.
Werner Weidenfeld: Das europäische Projekt leidet derzeit an einem Begründungsdefizit. In früheren Zeiten ist diese Begründung durch die Kriegserfahrung geliefert worden, dann durch die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration zu Zeiten des Ost-West-Konflikts. Diese Quellen stehen nun nicht mehr zur Verfügung.
Danach wurde die Integration pragmatisch fortgesetzt, ohne dafür noch orientierende Begründungen zu liefern. Dazu kommt bei der Europäischen Union noch eine gewisse Intransparenz im Entscheidungsprozess hinzu, sodass der Begründungsaufwand größer geworden ist. Es hat sich auch eine Zeitenwende der politischen Kultur vollzogen. Nach einer Generation, die von der Idee Europa bewegt war, ist jetzt eine Generation von Entscheidungsträgern in ihren Ämtern, die moderne Manager sind. Sie haben vor allem ein Interesse daran, für ihr Land möglichst viel herauszuholen.
Die Presse: Sie selbst haben kürzlich in Alpbach auf die Notwendigkeit einer globalen Rolle der EU hingewiesen. Aber mit welchen Mitteln? Die USA etablieren sich mit ihrer militärischen Macht. Soll es die EU ihnen gleichtun?
Werner Weidenfeld: Weltpolitische Mitverantwortung ist für Europa unausweichlich. Auch deshalb, weil unser Kontinent verletzbarer und enger verflochten ist als alle anderen Kontinente. Wenn neue internationale Krisen ausbrechen, ist Europa unmittelbar betroffen. Europa hat zwar das Potenzial eines Global Players. Ökonomisch liegen wir vor den USA. Militärisch haben wir uns auf den Weg gemacht zu einer gemeinsamen europäischen Handlungsfähigkeit. Und dafür gibt es ja laut Umfragen auch Unterstützung in der Bevölkerung. Was uns aber fehlt, ist vor allem ein strategisches Denken. Wir formulieren unsere Interessen im Gegensatz zu den USA nicht klar und prägnant. Und wir suchen deshalb auch nicht nach Optionen, wie wir diese Interessen am besten umsetzen können. Uns fehlt eine weltpolitisch denkende Elite. Sie gibt es nur national, wie etwa in Großbritannien.
Die Presse: Wäre ein EU-Beitritt der Türkei für die Union noch verkraftbar?
Werner Weidenfeld: Das kann man abstrakt nicht mit ja oder nein beantworten. Es ist die Frage, wie weit die politische Entwicklung der EU das zulässt. Und wie weit die Türkei zu einer wirklichen europäischen Gesellschaft wird. Wird die Türkei nicht dazu, so ist das nicht verkraftbar.
Die Presse: Sie haben die notwendige Transparenz von EU-Entscheidungen angesprochen. Gerade die Türkei-Entscheidung, wie sie in Helsinki 1999 gefällt wurde, war völlig intransparent. Wie soll da eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu Entscheidungen der EU-Regierungen entstehen?
Werner Weidenfeld: Ihr Beispiel zeigt einen riesigen Fehler auf: Es wird eine Grundsatzfrage der Europapolitik entschieden. Und das wird anschließend mit geringem Aufwand den Bürgern mitgeteilt.
Meine These ist, dass die negativen EU-Verfassungsabstimmungen in Frankreich und Niederlande gezeigt haben, dass dieser politische Stil nicht mehr funktioniert. Bevor große Entscheidungen gefällt werden, muss eine Verständigung mit der Gesellschaft stattfinden. Die Reihenfolge des Vorgehens muss also umgedreht werden.
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