4. Wirtschaft

4.4. Energie

Die Türkei gewinnt im Hinblick auf die europäische Energieversorgung zunehmend an Bedeutung. Zwar verfügt die Türkei nicht über eigene Erdöl- oder Erdgasreserven, dennoch ist sie als Transitland im internationalen Energiewettbewerb besonders für Europa strategisch sehr wichtig. Abgesehen von den Lieferungen aus Norwegen (13 Prozent) und Saudi-Arabien (9 Prozent), deckt die EU den Großteil (26 Prozent) ihres Erdölbedarfs durch Lieferungen über die Nordostroute aus Russland (Zahlen aus dem Jahr 2004). Der Ergasbedarf wird sogar zu 29 Prozent durch russische Erdgas-Lieferungen gedeckt (Norwegen: 17 Prozent; Algerien: 13 Prozent) (2004). Um diese Energieabhängigkeit zu vermindern, sind bereits mehrere Pipeline-Projekte in Planung, die alternative Zufuhrwege und eine Diversifizierung der Energieträger schaffen sollen. Die Türkei hat sich in mehreren Projekten als wichtiger Akteur etabliert:

Das Nabucco-Projekt sieht eine 3300 Kilometer lange Erdgas-Pipeline vor, die von Ankara aus über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich führen soll. In Ankara soll die Leitung Anschluss an die bereits bestehende Süd-Kaukasus-Pipeline haben, die Erdgas aus den Gebieten zwischen Iran und Aserbaidschan liefert.


Baku Tbilisi Ceyhan Pipeline, Foto: Europäische Kommission

Darüber hinaus befindet sich die ZentralBalkan-Pipeline in Planung. Diese Gas-Leitung könnte entweder eigenständig verlaufen oder mit der Nabucco-Leitung verzweigt werden. Die ZentralBalkan-Leitung startet ebenfalls in der Türkei, führt allerdings weiter über Makedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien nach Mitteleuropa.

Die Italien-Pipeline befindet sich ebenfalls noch in Planung und soll in Ankara startend an die bestehenden Leitungen angeschlossen werden und danach durch Griechenland nach Italien führen.

Bereits in Betrieb ist die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan. Diese führt über die drei Städte in Aserbaidschan, Georgien und der Türkei. Mit einer Länge von 1770 Kilometern ist die Baku-Tiflis-Ceyhan die längste Erdöl-Pipeline der Welt. Das gelieferte Öl stammt aus dem aserbaidschanischen Teil des Kaspischen Meers und gelangt über die Pipeline zum Mittelmeerhafen Ceyhan in der Türkei. Von dort aus wird das Erdöl auf Schiffen zu den Weltmärkten transportiert.

Abgesehen von diesen zahlreichen Großprojekten, mit denen die Türkei ihre Rolle im internationalen beziehungsweise europäischen Energieverkehr ausbauen konnte, ist die Türkei seit Jahren um die Sicherung ihres eigenen Energiebedarfs bemüht und hat dazu ein gigantisches Projekt auf die Beine gestellt: Das Südostanatolien-Projekt (türkisch: GAP – Güneydogu Anadolu Projesi).

Das Südostanatolien-Projekt ist das bisher größte Entwicklungsprojekt der türkischen Republik. Die Wurzeln dieses Projekts reichen zurück in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es umfasst die Errichtung von 22 Staudämmen, 19 Wasserkraftwerken und Bewässerungstunneln. Die „GAP-Region“, in der das Projekt verwirklicht werden soll, liegt zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris an der syrischen Grenze und umspannt ein Gebiet von sechs türkischen Provinzen (Adiyaman, Diyarbarkir, Gaziantep, Mardin, Sanliurfa und Siirt), das sind neun Prozent der türkischen Bodenfläche.

Das Projekt zielt zum einen auf eine erhöhte Produktion im Agrarbereich durch eine Bewässerungsanlage ab, die 1,64 Millionen Hektar Land mit Wasser versorgen soll. Zum anderen sollen die Wasserkraftwerke mit einer Leistung von 8000 Megawatt 27 Milliarden Kilowattstunden Stromenergie liefern. Ferner soll das Gebiet in eine Industrieregion mit zahlreichen Arbeitsplätzen verwandelt und der Tourismus gefördert werden.

Doch das Südostanatolien-Projekt birgt nicht nur Vorteile für die betroffene Region. Es wird befürchtet, dass die durch Tourismus und Industrie geschaffenen Arbeitsplätze vornehmlich an Personen aus der Westtürkei  vergeben werden, da in der Region ein sehr niedriger Bildungsstand herrscht. Zudem sind viele Äcker von Bodenversalzung und Überschwemmung durch die Anhebung des Grundwasserspiegels bedroht. Ferner mussten mehrere zehntausend Menschen umgesiedelt oder entschädigt werden, entweder weil ihre Wohngebiete überflutet wurden oder auf dem Grund des geplanten Projekts standen.

Die Regierung hingegen betont die soziale Dimension des Südostanatolien-Projekts. Durch das Projekt sollen das sozialen Gefälle und der divergierende Entwicklungsstand zwischen den Provinzen ausgeglichen werden.

Neben den innertürkischen Problemen hat das Südostanatolien-Projekt schwere Spannungen zwischen der Türkei und den Anrainerstaaten Syrien und Irak hervorgerufen, die ebenfalls direkt und indirekt von dem Projekt betroffen sind. Durch die Staudämme kontrolliert die Türkei die Süßwasserzufuhr beider Staaten. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Kurden-Problematik an Brisanz, denn 70 Prozent der in der „GAP-Region“ lebenden Bevölkerung sind Kurden. Das Südostanatolien-Projekt symbolisiert eine Integration der kurdischen Gebiete in die türkische Republik und erteilt damit eine Absage an jegliche kurdischen Autonomiebestrebungen.

Links

Katinka Barysch: Turkey's role in European energy security, CER essays

Ani Ohanian: Die Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline: Chance und Risiko für die Kaspische Region, weltpolitik.net

Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste: Die "Nabucco"-Gaspipeline als Teil der EU-Energieaußenpolitik, 22/07

Studiengesellschaft für Friedensforschung: Wasser - die Macht der Türkei. Das Staudammprojekt GAP in Südostanatolien

INOGATE Karten: Öl- und Gas-Pipelines nach Westeuropa

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