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Europas historische Stunde

Der Beitritt von 10 Ländern am 1. 5. 2004 stärkt Europas Demokratie und Marktwirtschaft

Wenn am 1. Mai 2004 zehn weitere Länder der Europäischen Union beitreten, bedeutet dies mehr als ein bloßes Anwachsen der Gemeinschaft auf 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das Datum markiert die Überwindung der Teilung eines Kontinents und steht für die Stärkung von Demokratie und Wirtschaftskraft. Eine beispiellose Erfolgsgeschichte.

Von Josef Janning

10.04.2004 · Deutschland Magazin



Noch nie in seiner langen Geschichte war Europa so geeint, wie es mit dem 1. Mai 2004 sein wird. Keine imperiale Macht und keine religiöse Kraft, weder der Mythos der Nation noch die Macht technischer Überlegenheit oder der Herrschaftswille der Diktatoren hat ein größeres Maß an Zusammenhang und Zusammenarbeit der europäischen Völker zustande gebracht als die EU. Die Öffnung für die neuen Mitglieder aus Ostmitteleuropa und dem Mittelmeerraum war die Antwort der Europäer auf die historische Zäsur des Winters 1989/90, als die selbst ernannten Volksdemokratien und Planwirtschaften zerfielen. Der Magnetismus der europäischen Integration hat den Reformprozessen in Ostmitteleuropa Richtung und Momentum gegeben – Mitglied der EU zu werden, beschreibt die Ambition praktisch jeder Reformbewegung im geographischen Raum des europäischen Kontinents.

15 Jahre nach dem politischen Beben in der Mitte Europas hat sich die freiwillige Bündelung von Souveränität zur Gewinnung gemeinsamer Handlungsfähigkeit als die größte Idee der Europäer seit der Aufklärung erwiesen. Das Konzept der Integration ist jedoch nicht zweckfrei gedacht und keine primär ethische Geste. Vielmehr entspringt es der Einsicht, dass für die Staaten Europas Wohlfahrt und Sicherheit, zwei der elementaren Aufgaben staatlichen Handelns, nicht mehr allein, sondern nur noch über die Ergänzung nationaler Handlungsfähigkeit durch den europäischen Verbund zu erreichen sein werden. In einer global zusammenwachsenden Welt bilden selbst die großen Akteure Europas für sich genommen keine relevante Größe mehr. In diesem Sinne ist die Integration zum Überlebensrezept der kleinräumigen Staatenwelt des alten Kontinents geworden. Sie erlaubt die Bewahrung von größtmöglicher Vielfalt der Gesellschaftswelt auf der Basis des materiellen Erfolgs bei größtmöglicher Vereinheitlichung der Wirtschaftswelt. In Verbindung zu Elementen des sozialen Ausgleichs und der Überwindung von Entwicklungsrückständen macht diese Kombination die Attraktion der Integrationsidee aus.

In mehrerlei Hinsicht betritt die EU mit der Ausdehnung von 15 auf 25 Mitglieder historisch Neuland und überschreitet Grenzen und Konstellationen, die zum Teil wesentlich älter sind als die Staatenwelt Europas selbst. Mit dem 1. Mai 2004 wird der slawische Kultur- und Sprachraum des östlichen Mitteleuropa Teil der EU. Von der Barentssee im hohen Norden bis zum Schwarzen Meer grenzt die erweiterte EU an den Raum der früheren Sowjetunion. Mit den drei baltischen Staaten kehren drei ehemalige Sowjetrepubliken nach Mitteleuropa zurück. Die beiden großen politischen Räume Europas, die EU und die Russische Föderation, werden zu Nachbarn. Es entsteht ein Europa ohne die Pufferzonen der Geschichte. Mit der ab 2007 bevorstehenden Erweiterung nach Südosteuropa und – möglicherweise – bis zur Türkei überschreitet Europa dann endgültig auch die Grenzen des lateinischen Europa. Europäer zu sein, kann dann nicht mehr nur als geographische Herkunftsaussage verstanden werden, sondern wird für die bewusste Zuordnung zum gemeinsamen Handlungsrahmen der EU stehen.

Der Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur EU besitzt aber nicht nur die umrissene europäische Dimension. Der 1. Mai 2004 steht zugleich auch für den erfolgreichen Abschluss des Wegs von der Diktatur zur Demokratie und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. In diesem Prozess haben Politik und Wirtschaft seit 1990 erstaunliche Fortschritte erzielt. Sie wären jedoch ohne die Bereitschaft der Menschen, im Wandel auf vertraute Sicherheiten zu verzichten, nicht möglich und nicht erfolgreich gewesen. Der radikale Umbau der Wirtschafts- und Sozialsysteme in Ostmitteleuropa hat nicht nur Gewinner hervorgebracht – die soziale Frage in den Gesellschaften der neuen Mitglieder der europäischen Union wird lange über 2004 hinaus wirksam bleiben.

Rund 78 Millionen neue EU-Bürgerinnen und -Bürger kommen mit der Erweiterung dazu. Deutlich höher als im Westen ist der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft. Sie produzieren zu erheblich günstigeren Preisen als die jetzigen EU-Landwirte, aber ohne deren Investitionen und nur unzureichend vorbereitet auf die Bedingungen der Marktordnungen und Handelsbestimmungen. In der Industrie Ostmitteleuropas findet ein rapider Strukturwandel statt, der vorerst kaum durch Subventionen und politische Eingriffe aufgehalten wird. Begünstigt durch Direktinvestitionen aus dem Westen Europas und den übrigen OECD-Staaten hat die Wirtschaft die Vorteile des EU-Beitritts zu einem Gutteil bereits vorweggenommen. Die Öffnung des gesamten Dienstleistungsbereichs Ostmitteleuropas ist bereits im Gange. Hier wiegen die Kostenvorteile der Standorte weniger schwer als die Effizienzvorteile der großen Dienstleister aus der EU und der OECD, ablesbar vor allem im Bereich der Finanzdienstleistungen.

Am Ende historischer Kompromisse

Das Ringen um die Europäische Verfassung im Konvent und – mehr noch – in der anschließenden Regierungskonferenz hat der europäischen Politik vor Augen geführt, dass auch die EU selbst im Prozess der Erweiterung auf 25 Mitglieder erhebliche Veränderungen durchleben wird. Knapp 80 Millionen neuer EU-Bürger verändern auch die Substanz der politischen Kultur Europas. Sie bringen die Erfahrungen von Diktatur und aufgezwungener Internationalität ebenso mit in die EU wie eine junge Souveränität und die Freude an ihrer Artikulation. Mit dem wirtschaftlichen Gefälle der Union wächst auch deren politische Heterogenität. Das Spektrum der Interessen, die im Prozess der Europapolitik auszugleichen sind, wird breiter. Wie viele neue Mitglieder eines Clubs kennzeichnet die jungen EUMitglieder eine Tendenz zum Status quo – auch wenn die EU kein Club und ihr Funktionieren alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, so werden sie doch nur zögerlich Veränderungen der Verfahren und Verträge akzeptieren. Österreich und die skandinavischen Staaten sind Beispiele für diese Tendenz. Den Binnenmarkt für den größer werdenden Raum zu bewahren und die Folgefragen der Marktöffnung zu verarbeiten wird die Europapolitik in der großen EU über viele Jahre hinweg fordern. Die Erweiterung verändert auch die politische Struktur Europas in doppelter Hinsicht. Zum einen verliert die in den Gründungsphasen von Montanunion und EWG prägende Konfliktachse ihre zentrale Bedeutung. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich bildete den zentralen Kompromiss der ursprünglichen Sechsergemeinschaft.

Beide Staaten besaßen eine besondere Führungsrolle auch deshalb, weil sie auch für den Ausgleich zwischen den agrarischen Schutzinteressen und den industriellen Handelsinteressen standen. Zum anderen relativiert die Erweiterung den anderen großen Kompromiss der Europapolitik, den des Ausgleichs zwischen den Wirtschaftszentren und der Peripherie im Süden und im Westen der von sechs auf zwölf erweiterten Europäischen Gemeinschaft. In der großen EU 25 – erst recht aber jenseits der 25 Mitglieder – verlieren diese Achsen ihre prägende Wirkung für die Verhandlungsebenen der Europapolitik. Die Machtformation der Integrationspolitik durchläuft eine Phase des Übergangs, in der die alten Strukturen noch sichtbar bleiben, doch erheblich an Wirksamkeit eingebüßt haben: Deutschland und Frankreich sind in der EU 25 nicht mehr die Pole der zwei zentralen Lager, sondern müssen eine neue Rolle für ihre Gestaltungsansprüche finden. Ebenso wird der Süden der EU 25 und darüber hinaus nicht länger die zentrale Entwicklungsaufgabe der Europapolitik sein – Solidarität und sozialer Ausgleich im Verteilungssystem der EU werden entsprechend zu erneuern sein.

Beide Linien der Veränderungen müssen auf die großen Ausgabenbereiche des EU-Haushalts durchschlagen, vor allem auf die Gemeinsame Agrarpolitik und auf die Strukturpolitik. In beiden Politikfeldern stehen historisch gewachsene Besitzstandsansprüche einer Neuausrichtung entgegen. Sie verschärfen ihrerseits das politische Problem der Nettozahler in der Europäischen Union. Statt nach neuen, nur kurzfristig wirksamen Wegen zu suchen, die Rückflüsse für Nettozahler wie die Niederlande oder Deutschland zu steigern, wäre eine nachhaltige Veränderung über eine konsequente Konzentration der Ausgaben auf die wichtigsten Fragen zu erreichen. Dies setzte jedoch eine politische Einigung über den Abbau aller produktionsbezogenen Agrarsubventionen und in Konsequenz dessen auch auf das Auslaufen des britischen Beitragsrabatts voraus. Das Beispiel verdeutlicht die Intensität der Verteilungskonflikte, die sich den Mitgliedern der EU 25 stellen.

Vieles spricht deshalb dafür, dass die Europapolitik mit der Stunde ihres historischen Triumphs zugleich auch das Ende ihrer historisch gewordenen Verteilungskompromisse erlebt. Sie wird durch eine Phase scharfer Konflikte gehen müssen, bevor eine neue Balance der Interessenlagen und Machtpotenziale gefunden sein wird. Die Skizze der Erweiterungsfolgen lässt wenig Zeit für das Schwelgen im lorbeerbaumgeschmückten Pathos der Festakte und Feierstunden. Europas politisches Entscheidungssystem benötigt dringend eine Verstärkung seiner Strukturen, die Sicherung von Entscheidungskapazität und die Verbesserung der Akzeptanz, wenn die Politik der kommenden Jahre die geschilderte neue Intensität von Interessengegensätzen und Verteilungskonflikten aufweist. Diesen Entwicklungsschub soll die Europäische Verfassung leisten: Der Entwurf des Konvents würde die Strukturen der Union straffen, das Regieren über Mehrheitsentscheidungen zur Regel machen und über die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments auch die demokratische Legitimation der Europapolitik wahren. Eine finale politische Ordnung ist damit noch nicht gefunden, zu unterschiedlich sind noch die Ansprüche und Erwartungen unter den europäischen Regierungen. Immerhin geht die Verfassung einen entscheidenden Schritt über den Vertrag von Nizza hinaus: In Nizza überlagerte die Sicherung von Veto-Optionen die Suche nach angemessenen Mehrheitsregeln. Schon heute ist deutlich, dass die Weiterentwicklung der europäischen Integration jenseits der Bereitschaft oder der Möglichkeiten mancher Staaten liegt – die Währungsunion oder das Schengener Abkommen stehen beispielhaft dafür. Je größer die EU wird, desto wichtiger wird auch ihre Anpassungsfähigkeit durch Differenzierung werden. Auch in dieser Hinsicht entwickelt die Verfassung den Vertrag von Nizza weiter, indem er zusätzliche Optionen der Flexibilität und des Vorangehens integrationswilliger Staaten schafft. Das große Europa wird auf die Dynamik des Integrationsfortschritts nicht verzichten können und deshalb auf solche Instrumente zurückgreifen. Dabei wird von entscheidender Bedeutung sein, wie die großen Staaten in der EU, vor allem Frankreich, Großbritannien und Deutschland ihre Stellung und Rolle wahrnehmen. Sie müssen die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und deren Integration in einer supranationalen Ordnung verklammern, sie sollten die flexible Vertiefung der EU gemeinsam mit anderen vorantreiben und nur sie können die erforderliche Reform der EU-Politik einleiten. Die anderen Europäer sollten den "großen Drei" ihre informelle Führungsrolle nicht bestreiten, solange diese ihre Ambitionen und Möglichkeiten in den Dienst der Integration stellen – schließlich geht es darum, die große EU im Innern zusammenzuhalten und nach außen deren weltpolitische Abstinenz zu überwinden.

Juni 2004 – Europawahl

Am 13. Juni 2004 wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ihre demokratische Vertretung: das Europäische Parlament (EP). Mit dem ersten gemeinsamen Gang zu den Wahlurnen nach der Erweiterung der EU am 1. Mai 2004 entscheiden die Wahlberechtigten jetzt in 25 EU-Mitgliedstaaten über die Zusammensetzung der 732 Sitze im Europäischen Parlament. Alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten besitzen das aktive und passive Wahlrecht und haben die Möglichkeit auch in EULändern zu wählen, in denen sie wohnen, deren Staatsangehörigkeit sie aber nicht besitzen.

Das Europäische Parlament wird alle fünf Jahre gewählt; es ist das einzige direkt wählbare Organ der EU. In Straßburg (Frankreich) hat das EP seinen Sitz, ein weiterer Tagungsort ist Brüssel (Belgien); das Generalsekretariat befindet sich in Luxemburg. Zwar hat das Parlament noch nicht die gleichen Rechte wie nationale Volksvertretungen; seine Befugnisse sind jedoch schrittweise erweitert worden. Das EP hat Gesetzgebungsrechte, Haushaltsrechte und Kontrollrechte gegenüber der EU-Kommission. Es muss unter anderem zustimmen, wenn die Mitgliedstaaten einen neuen Präsidenten der Kommission benennen. Völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft wie Beitrittsbeschlüsse und Assoziierungsabkommen können nur in Kraft treten, wenn das Parlament zugestimmt hat – ein wichtiges Mitwirkungsrecht bei der Erweiterung der Gemeinschaft.

Das Europäische Parlament wählt aus seiner Mitte einen Präsidenten für jeweils die Hälfte einer Legislaturperiode, also für zweieinhalb Jahre. Die Abgeordneten schließen sich in Fraktionen zusammen, die parteipolitisch ausgerichtet, aber übernational sind. Näheres zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche und für ausländische Bürgerinnen und Bürger der EU, die in Deutschland leben, gibt es im Internet unter: www.bundeswahlleiter.de


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