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Zwischen Jamaika und Bayerischem Wald

Analyse der Bundestagswahl 2005 in Bayern

19.09.2005 · Andreas Kießling



Die CSU musste am Wahlabend mehrere Überraschungen verdauen: Nicht nur, dass die Union insgesamt deutlich weniger Stimmen bundesweit erhielten als vorher gedacht. Auch in Bayern verfehlte die CSU zum zweiten Mal seit 1957 bei einer Bundestagswahl das selbst gesteckte Ziel von 50 % plus X. Bayernweit erzielte sie „lediglich“ 49,3 % der Zweitstimmen und verlor damit 9,4 %. Schwächer war sie seit den 50er Jahren nur bei der Kohl-Abwahl 1998, wo sie auf 47,7 % kam. Zum dritten erscheint nun auch noch eine erweiterte christlich-liberale Koalition mit den Grünen (Jamaika-Koalition) die beste Alternative.

Die SPD profitierte vom Minus der CSU allerdings nicht. Sie schnitt mit 25,5 % noch einmal um 0,7 % schlechter ab als 2002 und musste damit ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1953 verkraften. Bündnis90/Die Grünen dagegen können sich über das beste Abschneiden bei Bundestagswahlen in Bayern freuen (7,9 %; +0,3 %). Klarer Wahlsieger ist die FDP, die 5 % auf 9,5 % zulegte. Ebenso gewann Die Linke.PDS hinzu und erreichte mit 3,4 % (+ 2,8 %) einen Achtungserfolg. Die Wahlbeteiligung ging im Vergleich zu 2002 deutlich um 3,4 % auf 78,1 % zurück.

Analyse des Wahlergebnisses: Koalitionswahl bestimmend

Zur Ausgangslage ist zu konstatieren, dass das Wahlergebnis der CSU von 2002 außergewöhnlich war. Der Zugewinn von 10,9 % war allen voran Ausfluss einer enormen Mobilisierungswirkung, die von der Kanzlerkandidatur Stoibers ausgegangen ist. Die CSU konnte ihre eigene Stammwählerschaft vollständig an die Wahlurnen bringen, zog Wechselwähler von allen anderen Parteien ab und gewann sehr stark aus dem Lager der bisherigen Nichtwähler. Das Ergebnis von 2005 zeigt nun, dass dadurch aber keine neuen und stabilen Wähler-Partei-Koalitionen entstanden sind. Vielmehr wird deutlich, dass sich das Wählerverhalten auch in Bayern flexibilisiert: Selbst der bayerische Wähler wird wählerischer. Die Stimmverteilung ist daher auf folgende Ursachen zurückzuführen:

  1. Bestimmend war das in der Höhe bisher ungekannte Ausmaß an strategischen Koalitionswählern. Die Gewinne der FDP rekrutieren sich in erster Linie aus Wählern mit eigentlicher CSU-Parteipräferenz, die eine schwarz-gelbe Bundesregierung wünschten. Belegt wird dies durch die Verteilung der Erststimmen für die Direktmandatsbewerber: Hier erlangte die CSU ein Stimmanteil von 55% und bewegt sich damit auf ihrem gewohnten hohen Niveau. Als Grund für den hohen Anteil der Koalitionswähler ist folgende Perspektive zu benennen: Von den relativ positiven Umfrageergebnissen für die Union in der Sicherheit gewiegt, dass es CDU/CSU gelingen werde, klar stärkste Partei zu werden, wollten sie dem potentiellen kleineren Koalitionspartner den Rücken stärken. Verhindert werden sollte in deren Kalkül eine Situation wie 2002, wo es aufgrund des schwachen Abschneidens der Liberalen nicht für eine bürgerliche Mehrheit gereicht hatte. Der Koalitionswahlkampf und die Zweitstimmenkampagne der FDP waren damit von Erfolg gekrönt. Allein: Die Rechnung ging mit umgekehrten Vorzeichen nicht auf.
  2. Der CSU ist keine mit 2002 vergleichbare Mobilisierungsleistung der eigenen Kernanhängerschaft gelungen. Die Wahlbeteiligung ging überall dort überproportional zurück, wo die CSU überdurchschnittlich an Stimmen verlor. Dies sind gleichzeitig die Regionen in Bayern, in denen die Christ-Sozialen traditionell am stärksten sind. Allen voran ist dabei Niederbayern zu nennen. Hier kommt die CSU zwar weiterhin mit 57,3% der Zweitstimmen auf das beste Ergebnis in den Regierungsbezirken, verliert aber 12,5% gegenüber 2002. Gleichzeitig ging auch die Wahlbeteiligung um 5% zurück. Ein ähnliches Bild ergibt sich in der Oberpfalz. 2002 erzielten die Christ-Sozialen in dieser Region mit 63,1% ihr zweitbestes Ergebnis. Im Vergleich dazu verlor sie bei der jetzigen Wahl 11,9%. Auch hier ist die Partizipation um 4,7% und damit überdurchschnittlich niedriger als im Bayern-weitem Vergleich. Da der Mobilisierungseffekt vor drei Jahren insbesondere auf Stoiber zurückzuführen war, muss heute gesagt werden, dass die Spitzenkandidatin Merkel nicht in ähnlicher Weise gewirkt hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass viele CSU-Wähler dem Personalangebot der Union skeptisch gegenüber standen.
  3. Der CSU hat auch der relative Wahlerfolg der sozialpopulistischen Linkspartei geschadet. Der Zugewinn der Linkspartei erklärt sich nicht allein aus den Verlusten der SPD. Auch ehemalige CSU-Wähler fühlten sich von dieser Alternative angesprochen. Zu sehen ist dabei, dass sich die CSU in Bayern bei den letzten Urnengängen  zur eigentlichen „proletarischen Partei“ (Franz Walter) entwickelt hatte. Bei der Landtagswahl 2003 etwa erzielte sie in der Berufsgruppe der Arbeiter 62% (+16%) und bei den Arbeitslosen 49% (+13%). Problematisch für die CSU war also auch, dass sie sich in diesem Wahlkampf nicht als die „Partei der kleinen Leute“ und der „sozialen Balance“ profilieren konnte. Insoweit hat die Inszenierung eines „Richtungswahlkampfes“ durch die SPD und Schröder verfangen. Die Politik der Union wurde als eine der sozialen Kälte wahrgenommen. Durch Paul Kirchhof, Finanzexperte im Kompetenzteam, erhielt diese Kritik zusätzlich eine Personifizierung, die die Argumentation der Sozialdemokraten erleichterte. Da die CSU ihr „soziales Gesicht“, Horst Seehofer, nicht mehr in der vordersten Reihe präsentieren konnte, konnte sie dem auch nichts entgegen setzen.
  4. Die CSU konnte auch weniger als 2002 Wechselwähler an sich binden. Die Äußerungen Stoibers zu Ost-Deutschland – wie immer sie auch gemeint waren – hatten hier abschreckende Wirkung. Eine Mobilisierungsleistung im Blick auf die eigene Anhängerschaft ging davon auch nicht aus.
  5. Die SPD kann angesichts des Ergebnisses nicht in Jubellaune verfallen. Dass sie nicht so schlecht abgeschnitten hat, wie von vielen befürchtet, liegt zum einen daran, dass sie mit ihren 25,5% der Stimmen schon auf einem relativen Tiefpunkt angelangt ist. Sicher – das zeigen die Landtagswahlen von 2003 – hätten die Sozialdemokraten aber noch schlechter abschneiden können. Ihr Ergebnis ist jedoch in erster Linie in den bundespolitischen Kontext einzubetten: Der Persönlichkeitsfaktor von Kanzler Schröder trug entscheidend zur Stabilität der bayerischen SPD bei. Zudem konnte sie davon profitieren, dass es auch in Bayern einen relevanten Bevölkerungsanteil gibt, dem das Reformprogramm der Union als sozial zu unausgewogen erschien.
  6. Bündnis90/Die Grünen haben sich zu einer festen Größe im bayerischen Parteiensystem entwickelt. Ihnen gelang eine Mobilisierung ihrer Wählerklientel, die bei zurückgehender Wahlbeteiligung die relativen Stimmengewinne (absolut verloren die Grünen 2.443 Stimmen) hauptsächlich erklärt.

Die aktuelle und künftige Rolle Stoibers: Navigator nach Jamaika

Jenseits der Frage, welche Verantwortung der CSU-Chef für den Wahlausgang hat, ist seine aktuelle Rolle für die Bildung einer regierungsfähigen Koalition von entscheidender Bedeutung. Für die CSU wie für die Union insgesamt ist nüchtern zu konstatieren, dass sich nun zum dritten Mal in Folge eine Mehrheit in der Wählerschaft links des bürgerlichen Lagers ergab. Das bedeutet, dass es zu einer politisch-kulturellen Verfestigung dieser Konstellation gekommen ist. Entsprechend fanden die Wählerwanderungen in erster Linie innerhalb der politischen Lager statt. Der lagerübergreifende Wechsel spielte nur eine untergeordnete Bedeutung. Der Union muss nun daran gelegen sein, dieses Lager-Denken aufzubrechen, so Bewegung ins Spiel zu bringen, um wieder die Chance zu haben, klar stärkste Partei zu werden.

Das beste Mittel dafür ist die Bildung der Jamaika-Koalition. Abgesehen davon, dass die inhaltlichen Schnittpunkte zwischen den drei Parteien größer sind, als oftmals dargestellt, und dass sie auch im Bundesrat über eine sichere Mehrheit verfügen würde, bereitet die Vorstellung auch in der pragmatischen Union einige Bauchschmerzen. CDU/CSU werden vom strategischen Fehler eingeholt, nicht bereits seit 1998 auf eine solche Erweiterung der Koalitionsoptionen hingewirkt zu haben. Dabei stand bereits damals fest, dass die Notwendigkeit einer solchen Konstellation kommen würde.

Nun muss die Union den dafür nötigen innerparteilichen Kulturwandel innerhalb weniger Wochen organisieren. Das macht die zentrale aktuelle Bedeutung von Stoiber derzeit aus. Wer, wenn nicht er, der nicht in den Verdacht geraten kann, schon immer heimlich eine Koalition mit den Grünen favorisiert zu haben, könnte nun die Rolle des Anwalts für diese Option einnehmen? Es liegt nun an ihm, die CSU – und damit aber auch weite Teile der CDU – auf diese Mehrheit im Bundestag vorzubereiten. Als einer der Hauptarchitekten einer Jamaika-Koalition müsste er aber dann auch Verantwortung in Berlin übernehmen. Der CSU in Bayern käme das wohl nicht ungelegen: Sie könnte so einen „sanften Machtwechsel“ und damit eine Erneuerung der CSU im Freistaat einleiten.

Perspektiven des Parteienwettbewerb in Bayern: Keine „natürliche“ Mehrheit der CSU

Als perspektivisch relevantes Ergebnis für den Parteienwettbewerb in Bayern bleibt festzuhalten, dass Mehrheiten für die CSU weniger denn je Gott gegeben sind. Die Mehrheiten der CSU sind nicht Ergebnis eines Naturgesetzes, sondern die Partei muss jedes Mal neu um ihr Wahlziel kämpfen. Die Indikatoren für die Volatilität des Parteiensystems belegen dies. Der so genannte „Pedersen-Index“ bei Bundestagswahlen stieg von 1994 (4,7) bis 2002 (12,6) stark an und blieb auch beim jetzigen Urnengang mit 11,1 auf sehr hohem Niveau.

Die Flexibilisierung des Wählerverhaltens ist dabei in zweifacher Hinsicht zu beachten: Zum einen sind für die Bürgerinnen und Bürger Wahl und Nicht-Wahl gleichberechtigte Alternativen. Zum anderen steigt auch der Wechsel zwischen den Parteien an. Umso wichtiger ist es für die CSU, den ständigen Selbstregenerationsprozess, der sie in der Nach-Strauß-Ära auszeichnete, weiter zu leisten. Der Erhalt der Macht alleine genügt nicht, denn letztlich hat sie ein Verfallsdatum. Die Machtbasis will immer wieder erneuert werden – das gilt auch für die CSU.


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