Schwierige Nachbarschaft
Die EU muss die Streitigkeiten zwischen den baltischen Staaten und Russland als ihre Angelegenheit begreifen.
09.05.2007 · Financial Times Deutschland
Die Liste der baltisch-russischen Probleme ist lang, fast immer fehlt es an der für eine Lösung erforderlichen Besonnenheit. So ist bisher nicht einmal der Grenzvertrag zwischen Estland und Russland ratifiziert. Bar jeden Realitätssinns unterstellt Moskau Tallinn, den Friedensvertrag von Tartu 1920 zugrunde zu legen und damit die Grenze 40 Kilometer nach Osten verschieben zu wollen.
Ansicht von Talinn
Als Russland im Mai 2005 den 60. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland feierte, blieben das offizielle Litauen und Estland fern, um sich von der damaligen sowjetischen Annektion zu distanzieren. Im Gegenzug verzichtet Putin darauf, den polnischen und litauischen Präsidenten zur 750-Jahr-Feier Kaliningrads einzuladen, obwohl die Länder an die russische Exklave angrenzen.
Seit Juli 2006 ist der staatliche russische Pipelinebetreiber Transneft damit beschäftigt, die Druschba-Pipeline zu reparieren, über die russisches Öl zur litauischen Raffinerie Mazeikiu Nafta fließt. Laut Einschätzung von Experten dürften die Arbeiten nicht länger als zwei Wochen dauern. Es ist davon auszugehen, dass Russland mit der Verzögerung gegen den Verkauf von Mazeikiu Nafta an die polnische PKN Orlen protestiert.
Die Ursachen des Konflikts liegen tief. In Estland und Lettland sind rund ein Fünftel der Bevölkerung russisch oder russischstämmig Folge sowjetischer Siedlungspolitik. Diese sind trotz immenser Verbesserungen seit der Unabhängigkeit der Staaten nur unzureichend gesellschaftlich integriert. Zudem hat Russland immer noch nicht verkraftet, dass die 1940 gewaltsam von der Sowjetunion annektierten Baltenstaaten mit ihrem Beitritt zur Nato und EU unwiderruflich einen Westkurs eingeschlagen haben. Und während die nationale Identität Estlands, Lettlands und Litauens auf der Rolle als Opfer des Stalinismus basiert, beharrt Russland darauf, dass die UdSSR die drei Staaten vom Faschismus befreit hat.
Die EU-Kommission hat die Streitigkeiten zwischen Moskau und Tallinn, Riga und Vilnius bisher gern als deren interne Angelegenheit abgetan. Gegenwärtig bemüht sich Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin um Vermittlung. Es wird offensichtlich, dass die EU den immer wiederkehrenden Konflikt nicht mehr ignorieren kann.
Denn zum einen sind die neuen EU-Mitglieder gleichberechtigte Teilnehmer am europäischen Entscheidungsprozess. Russland und die EU müssen ihr Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das Ende 2007 ausläuft, neu verhandeln. Es bedarf der Zustimmung aller 27 EU-Mitglieder. Zurzeit verweigert Polen der EU das Verhandlungsmandat und nennt dabei als Hauptgrund den russischen Boykott gegen polnische Fleisch- und Agrarerzeugnisse. Litauen hat mit einem Veto gedroht, um Russland zur Wiederaufnahme der Öllieferungen zu bewegen. Sollte Russland seine Politik der Boykott- und Sanktionsforderungen fortsetzen, werden voraussichtlich weitere Vetos hinzukommen. Eine Koalition der Skeptiker droht die bilateralen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland zu blockieren.
Zugleich werden auch in Russland Forderungen laut, die Konflikte mit den baltischen Staaten zum Gegenstand der Verhandlungen mit der EU zu machen. Ein Streitpunkt sind zum Beispiel baltische Bestrebungen, dem geplanten EU-weiten Verbot neonazistischer Symbole auch das sowjetischer Symbole hinzuzufügen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bemüht sich um eine neue europäische Ostpolitik und setzt dabei auf Kooperation mit Russland. Die Streitigkeiten zwischen Russland und den baltischen Staaten drohen zu einem europäischen Problem zu werden, die diesem Ansatz zuwiderlaufen.
Die EU sollte Folgendes tun: Zur Schadensbegrenzung können Kommission und Ratspräsidentschaft im aktuellen Konflikt beschwichtigend auf Moskau und Tallinn einwirken. Langfristig müssen die baltischen Staaten und Russland aber daran interessiert sein, ihre historischen Erblasten aufzuarbeiten. Ziel muss es zudem sein, die russischsprachige Bevölkerung in die baltischen Staaten und Gesellschaften zu integrieren. Zugleich müssen europäische Entscheidungsträger aber auch geschlossen gegenüber Russland klarmachen, dass es nicht beliebig Sanktionen gegen einzelne EU-Staaten androhen kann. Die EU sollte zugleich den Aufbau konstruktiver Beziehungen unterstützen. Eine europäische Ostpolitik ohne die Einbindung der baltischen Staaten griffe zu kurz. Die baltischen Staaten sind herausgefordert, ihre historisch und geografisch exponierte Lage zu Russland konstruktiv für die Gestaltung der Beziehungen zu dem schwierigen Nachbarn Europas zu nutzen.
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