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Ukraine-Konflikt: „Noch keine Lösung“

Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld

Politikwissenschaftler Prof. Werner Weidenfeld ist nur verhalten optimistisch: Warum im Ukraine-Konflikt eine Lösung wohl erst nach langen Verhandlungen gefunden werden kann, was Wladimir Putin wirklich antreibt – und was die Bundeskanzlerin richtig macht.

18.02.2015 · Focus Money 9/2015



FOCUS-MONEY: In Minsk haben sich die Konfliktparteien nun auf ein Abkommen geeinigt und unter anderem eine Waffenruhe vereinbart. Ist die Krise in der Ukraine damit gelöst?

Werner Weidenfeld: Nein, keineswegs. Denn bei Licht besehen, handelt es sich bei diesem Abkommen nicht um eine Lösung, sondern nur um eine Minimalvereinbarung. Das zeigt sich beispielsweise an erbitterten Kämpfen um jeden Quadratmeter bis zum endgültigen Inkrafttreten der Waffenruhe oder den latenten bis offenen Vorbehalten der Separatistenführer. Übrigens gab es die Elemente dieser Minimalregelung vor einigen Monaten ja schon einmal – und damals hielt sich niemand daran.

MONEY: Also keine Fortschritte…?

Weidenfeld: Das möchte ich nicht sagen. Es gibt einen Unterschied zum früheren Abkommen, den man nicht unterschätzen darf: Die Vereinbarungen sind mit einem deutlich höheren Prestigewert ausgestattet, allein schon durch den Vorlauf und den Rang der Gesprächspartner. Die aus meiner Sicht entscheidende Symbolbotschaft ist jedoch, dass Putin die Einigung verkündet hat.

MONEY: Warum ist das denn so wichtig?

Weidenfeld: Damit billigen ihm die Gesprächspartner einen Prestigebonus zu, damit er konstruktiv weiter mitmacht. Das ist die entscheidende Botschaft aus Minsk.

MONEY: Wird Putin denn konstruktiv mitmachen?

Weidenfeld: Davon ist auszugehen, jedenfalls wenn man sein bisheriges Verhalten als konstruktiv definiert. Das entspricht schließlich seiner Interessenlage, denn wenn er Repräsentant einer ernst zu nehmenden Weltmacht sein will, muss er mitmachen. Würde er sich nur distanzieren und auf Krieg setzen, würde ihn das isolieren und in seinen Rollen beschädigen. Und so dumm ist Putin nun wirklich nicht.

MONEY: Lassen sich die Vereinbarungen von Minsk als territorialer Gewinn für Russland interpretieren?

Weidenfeld: Mit solchen Kategorien wäre ich sehr vorsichtig, denn es ist ja noch nichts wirklich fixiert. Solche Formulierungen würden eine Art „Rechtscharakter“ bedeuten, der diesem Papier nicht zukommt.

MONEY: Sollte die jetzige Minsker Vereinbarung scheitern – wie ja schon die vorige –, würden wohl rasch wieder Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine laut. Wäre das die Kriegserklärung des Westens an Putin.

Weidenfeld: Vielleicht noch nicht die Kriegserklärung – es käme ja auch darauf an, welche Waffen geliefert würden –, aber auf jeden Fall eine Eskalation, und zwar eine sehr ernste. Bei solchen Forderungen ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die Amerikaner vor dem Hintergrund ihrer weltpolitischen Tradition in solchen Dingen etwas „lockerer“ denken. Außerdem sind sie weiter weg von Ort des Geschehens als die Europäer, die ja direkte Nachbarn der Ukraine sind. Da kann die Einschätzung schon mal etwas unterschiedlich ausfallen.

MONEY: Mit welcher Reaktion Putins wäre denn zu rechnen, wenn es zu Waffenlieferungen kommen sollte?

Weidenfeld: In der Logik seines Denkens würde er wohl seinerseits neue Waffen liefern und generell die militärische Unterstützung der prorussischen Seite ausbauen. Und damit wären die Konfliktparteien mitten drin in einer Spirale der Eskalation, denn die Antwort des Westens wäre dann wiederum eine weitere Verstärkung ihrer militärischen Unterstützung.

MONEY: Wie sieht eigentlich die Position von Präsident Obama aus? Bisher klang er ja eher abwartend bis zaudernd, was Waffenlieferungen angeht…

Weidenfeld: Ich denke, Obama teilt durchaus die Position von Angela Merkel, auch wenn er das vielleicht nicht so deutlich sagen will oder kann. Aber man kann diese Übereinstimmung auf der symbolischen Ebene spüren, die in der Politik so wichtig und vielsagend ist: Würde Obama nicht Merkels Sicht teilen, hätte er in der vergangenen Woche keine so ausführliche Unterredung mit ihr gehabt. Und Merkel wäre während ihres Aufenthaltes sicher nicht im Gästehaus der US-Regierung untergebracht gewesen, sondern in irgendeinem Hotel, so wie andere Bundeskanzler vor ihr. Solche Gesten signalisieren ein ungewöhnlich hohes Maß an Sympathie.

MONEY: Zurück zu Putin: Hätten Waffenlieferungen des Westens nicht eine „abschreckende“ Wirkung auf ihn?

Weidenfeld: Überhaupt nicht. Wer so argumentiert, versteht Putins gesamtes bisheriges Denken nicht. Wir dürfen nicht vergessen: Beim Machtpoker um die Ukraine geht es um viel mehr als territoriale Ansprüche. Dahinter steckt ein Ringen um die künftige Weltpolitische Architektur. Das ist auch der Grund, warum man sich auf einen langwierigen Konflikt einstellen muss. Wer glaubt, die Situation ließe sich durch Drohgebärden gleichsam mit einem Fingerschnippen erledigen, macht sich Illusionen und verhält sich überdies völlig unhistorisch.

MONEY: Was bestimmt denn das politische Denken von Wladimir Putin?

Weidenfeld: Eine große Rolle in Moskau spielt ein tief gekränktes politisches Selbstbewusstsein. Wer heute mit einem russischen Politiker spricht, hört schon nach wenigen Sätzen die Klage: Uns nimmt niemand mehr ernst. Wenn man einen Schlüssel zum Verständnis der russischen Politik der letzten Jahre sucht, dann ist es dieser Satz. Weil sich Russland nicht mehr als ernsthafte Weltmacht wahrgenommen fühlt, betreibt es mit Blick auf den Iran, auf Syrien oder eben auf die Ukraine eine „Politik der Stärke“. Damit will es den anderen Mächten zeigen: Es ist wohl besser, wenn ihr uns ernst nehmt.

MONEY: Wie kann man der russischen Politik denn konkret das Gefühl geben, sie werde ernst genommen?

Weidenfeld: Im Grunde genommen ist das, was Frau Merkel aufbaut – also eine Kommunikationsstruktur –, durchaus eine angemessene Antwort. Wer den Schlüssel der Problematik allmählich ins Positive drehen will, muss es so machen wie die Kanzlerin. Sie konsultierte vor dem Treffen in Minsk den amerikanischen Präsidenten, sie war mit dem französischen Präsidenten zusammen bei Putin – das sind Formen einer Kommunikation, die Putin einbinden und im signalisieren: Wir begegnen uns auf allerhöchster Ebene. Wenn man diesen Wer konsequent weiter beschreitet, wird ein Teil der Wunden aus früherer Zeit geheilt oder zumindest „verbunden“ – und dann kann es konstruktiv vorangehen.

MONEY: Sie sprachen von einer neuen globalen Sicherheitsstruktur. Worum geht es dabei?

Weidenfeld: Wir stehen heute vor einer vollkommen neuen Sicherheitslage. Lange Zeit gewohnte Ordnungselemente gibt es nicht mehr. So ist das frühere Grundprinzip jeder Sicherheitspolitik – die Abschreckung – komplett weggefallen. Auch einen disziplinierenden Zugriff großer Ordnungsmächte gibt es nicht mehr. Was es dagegen gibt, sind große, vollkommen neue Herausforderungen. Vor allem ist das der Terrorismus, als der Krieg mit nicht staatlichen Truppen. Dazu kommt die Cyber-Dimension: Sie führt zu einer Art hybrider Kriegsführung – niemand weiß mehr, wo der Feind eigentlich sitzt. Amerika hat deshalb bereits von Abschreckung auf Schutz umgeschaltet, und auch die anderen Staaten müssen diese Schutzdimension in Zukunft stärker bedenken.

MONEY: Was bedeutet das konkret? Wie kann man diesen Herausforderungen begegnen?

Weidenfeld: Diese Aufgaben kann weltpolitisch keine Macht alleine bewältigen, dazu sind neue, strategische Partnerschaften erforderlich. Ein Modell dafür gab es beispielsweise in den 50er- und 60er-Jahren, als die westliche Allianz von eine gemeinsamen strategischen Kultur unterfüttert war. So etwas ist auch jetzt in dieser neuen Phase der Weltpolitik nötig. Der Ansatz steht zum Beispiel hinter den häufigen Besuchen der Kanzlerin Merkel in Indien oder China, und in diesen Kontext gehört eben auch Russland. Wird Russland in eine solche strategische Partnerschaft einbezogen – und das geht nicht über Nacht und per Zuruf –, kann eine globale strategische Allianz geschmiedet werden.

MONEY: Auf Russland zugehen – schön und gut. Aber da gab es nun mal auch die Übergriffe in der letzten Zeit…

Weidenfeld: Mit dem Aufbau einer strategischen Partnerschaft kann natürlich nicht gemeint sein, allem zuzustimmen und alles zu akzeptieren. Insofern ist es gut und richtig, wie der Westen im Großen und Ganzen geschlossen zusammensteht und etwa zur Annexionspolitik oder zu Menschenrechtsverletzungen eine relative klare gemeinsame Position vertritt.

MONEY: Stichwort Annexion. Das Argument Putins, in der Ukraine gehe es ihm um den Schutz der russischen Bevölkerung, ließe sich auch problemlos auf andere Staaten übertragen, etwa auf das Baltikum, wo ebenfalls viele Russen leben. Drohen dort auch Übergriffe Russlands?

Weidenfeld: Tatsache ist, dass die Bevölkerung dieser Länder so etwas befürchten. In Estland ist beispielsweise rund ein Viertel der Bevölkerung russisch, auch Lettland und Litauen haben hohe russische Bevölkerungsanteile. Es gibt jedoch einen ganz entscheidenden Unterschied zur Ukraine: Die baltischen Staaten sind EU- und Nato-Mitglieder, Lettland hat derzeit die EU-Präsidentschaft inne, Estland und Litauen haben den Euro. Diese Länder sind also ganz anders in die westliche Staatengemeinschaft integriert als die Ukraine. Dass es zu einem ernsten, militärisch aufgeladenen Konflikt kommt, halte ich deswegen für unwahrscheinlich. Allenfalls wäre denkbar, dass Putin – falls sich die Lage der Ukraine nicht beruhigen lässt –, über Dritte Unruhe im russischen Teil der Bevölkerung im Baltikum schüren lässt. Also keine Militäraktionen, aber Unruhe auf innenpolitischem Gebiet, etwa durch permanente Klagen über die schlechte Behandlung der Russen oder durch Cyberattacken. Wer machiavellistisch denkt, kann auf solche Ideen kommen.

MONEY: Große Ängste vor russischen Aggressionen gibt es auch in Polen oder Tschechien …?

Weidenfeld: In der Tat, das ist etwa in Polen mit Händen zu greifen. Die Menschen dort sind noch ganz anders als wir gepackt von den Vorgängen in der Ukraine. In den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts herrscht generell die Befürchtung: Übermorgen passiert das bei uns auch. Das ist ein historisches Trauma, das nach wie vor sehr vital ist. Dennoch: So wie es im Moment aussieht, gehe ich nicht davon aus, dass Putin Ähnliches wie in der Ukraine unternimmt.

MONEY: Welche Rolle spielen eigentlich die westlichen Sanktionen? Schaden sie Putin – oder nützen sie ihm sogar, weil sie die Bevölkerung zusammenschweißen.

Weidenfeld: Sicher wird durch die Sanktionen Druck ausgeübt. In einer solchen Situation stellt sich die Bevölkerung aber auch gern hinter die eigene Führung. Schließlich ist der Wunsch, ernst genommen zu werden, keine Haltung einiger weniger Führungskräfte, sondern eine breite Grundströmung in der russischen Bevölkerung. Der Westen darf sich auch nicht über die Reaktion der Russen auf wirtschaftliche Einschränkungen täuschen. Die fällt anders aus, als das bei uns der Fall wäre. Wir wissen schon aus früheren Jahrzehnten, dass die russische Bevölkerung sehr leidensfähig ist. Als es den Menschen am Ende des Ost-West-Konflikts materiell sehr schlecht ging und es gerade mal Brot und selbst gebrannten Wodka gab, hat die Bevölkerung das relativ ohne zu murren ertragen.

MONEY: Aber diese Zeiten sind doch schon lange vorbei …?

Weidenfeld: Täuschen Sie sich da nicht. Unser Bild von Russland ist stark durch das geprägt, was wir von Moskau oder Petersburg sehen. Aber wenn man nur ein paar Kilometer aus den großen Städten herauskommt, sieht es schon ganz anders aus. Da treffen Sie auf Menschen, die immer noch klaglos das Wasser aus kilometerweit entfernten Brunnen holen. Aber selbstverständlich kann die Stimmung irgendwann trotzdem kippen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Elite um Putin herum von materiellen Verschlechterungen in größerem Ausmaß betroffen sein sollte. Wenn die Machteliten in Moskau stark betroffen sein sollten, könnte es für Putin kitzlig werden.

MONEY: Was ist eigentlich dran an der Argumentation Russlands, der Westen habe nach dem Ende der Sowjetunion zugesagt, seine Einflusssphäre nicht weiter nach Osten auszudehnen, diese Zusagen aber nicht eingehalten und Verträge gebrochen?

Weidenfeld: Das stimmt so nicht. Der Westen hat keine Zusagen gemacht, das hat sogar jüngst Ex-Präsident Gorbatschow noch einmal ausführlich erläutert. Was der Westen definitiv getan hat war die Aussage: Es werde keine Nato-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert, solange dort sowjetische Truppen stehen. Es gibt keinerlei Zusagen oder vertragliche Vereinbarungen bezüglich anderer Staaten des Warschauer Pakts. Das wäre schon völkerrechtlich gar nicht möglich, denn darin läge eine grobe Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Man kann schließlich Polen nicht vorschreiben, wo es Mitglied werden darf und wo nicht.

MONEY: Aber ist dieser Eindruck westlicher Zusagen völlig aus der Luft gegriffen?

Weidenfeld: Politische Spitzengespräche, das kann man immer wieder beobachten, haben stets eine gewisse „kommunikative Unschärfe“. Nach solchen Unterredungen ist es daher immer möglich, sie unterschiedlich zu interpretieren. Insofern halte ich es auch für äußerst bedeutsam, dass Angela Merkel bei ihrem Obama-Besuch ein so großes Zeitfenster zur Verfügung hatte. Wer viel Zeit hat, hat es sehr viel schwerer, sich misszuverstehen – es bleibt genügend Zeit, Dinge zu fixieren.

MONEY: Wenn man davon ausgeht, dass es nicht zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt, wie geht es mittelfristig mit der Ukraine weiter?

Weidenfeld: Eins vorweg: Was passiert ist, ist durchaus eine kriegerische Auseinandersetzung, wenn auch keine von weltpolitischem Maßstab. Bei den Verhandlungen wird es darum gehen, die gegenwärtigen Frontlinien zu entmilitarisieren, also eine Zone zu schaffen, die eine Ausdehnung der Kriegshandlungen verhindert. Dann könnte ein Autonomiestatus der Ostukraine Thema werden. Die Ukraine hat ja bereits selbst eine Föderalisierung des Landes angeboten, die besondere Autonomieformen der Ostregion umfasst. Generell könnten sich die Konfliktparteien bemühen, über einen Waffenstillstand zu einer Art Friedensvertrag zu kommen.

MONEY: Und wie lange könnte es dauern, bis ein dauerhafter Frieden in der Ukraine erreicht ist?

Weidenfeld: Es wäre aber eine Illusion, auf dem Verhandlungsweg eine schnelle Lösung zu erwarten. Da muss man sich wohl eher auf 20 oder noch mehr solcher Konferenzen wie jetzt in Minsk einstellen.

Interview: Thomas Wolf


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