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Entfernte Verwandte - Europa spielt in der US-Politik kaum noch eine Rolle

Von Werner Weidenfeld

In der amerikanischen Politik spielt das Verhältnis zu Europa inzwischen kaum noch eine Rolle. Dabei ist die Liste der Probleme, die nur gemeinsam zu lösen sind, länger als je zuvor

26.05.2008 · Financial Times Deutschland



Amerika lebt in politischer Anspannung. Der Grund ist dieses Mal nicht eine weltpolitische Katastrophe. Es ist ein ungewöhnlicher Wahlkampf. Man muss weit in historische Zeiten zurückblicken, um eine ähnliche Länge und eine solch verwirrende Härte zu entdecken. Einige der traditionellen Konstellationen amerikanischer Wahlen verschieben sich ob solcher Begebenheiten.

Angesichts der heftigen Tageskonflikte wird jedoch ein Sachverhalt übersehen, der von hoher weltpolitischer Relevanz sein wird: Europa spielt keine Rolle. Der alte Kontinent findet keine Erwähnung. Wenn schon Internationales im Wahlkampfpathos auftaucht, dann China und Russland. Als politischer Faktor unerwähnt zu bleiben, das ist kein Beleg attraktiver Leistungsfähigkeit oder magnetischer Anziehungskraft.

Das Thema "Amerika und Europa" verschwindet praktisch aus der öffentlichen Debatte und aus der sensiblen Wahrnehmung. Es findet darüber keine der früher üblichen großen Debatten über historische Zäsuren statt – kein "Ende der Partnerschaft", kein "Ende der Demokratie", kein "Flaggezeigen zur Wiedergeburt des Westens". Die transatlantische Angelegenheit erodiert. Sie verschwindet leise.

Aber warum geschieht dies, obwohl Europa bei vielen Sachthemen eine wichtige Rolle übernehmen müsste, falls die Probleme wirklich gelöst werden sollten? Spricht man die amerikanischen Entscheidungsträger auf dieses Phänomen an, dann löst man mildes Desinteresse aus. Europa sei zu selbstbezogen. Die klassischen transatlantischen Treffpunkte seien doch alt, träge und müde. Als Amerikaner könne man sofort die Punkte der Differenzen zu Europa nennen: die andere Einschätzung des globalen Terrors, die Rolle der Institutionen wie etwa der Vereinten Nationen, die Nutzung militärischer Gewalt – und Europa sei doch kein Modell für eine weltweite Realisierung. Selten sind amerikanische Außenpolitiker so eloquent wie bei der spontanen Auflistung der enttäuschten Distanzpunkte zu Europa.

Dem kühlen Analytiker der Weltpolitik eröffnet sich jedoch sofort der Zugang zur Gegenwirklichkeit: Es besteht eine lange Liste von Herausforderungen, die keine Macht allein bestehen kann. Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen Partnerschaften als Antworten:

  • Die nukleare Perspektive des Iran wird nicht von den USA allein abzuwenden sein. Da überhebt sich selbst eine Weltmacht.
  • Wer im Irak mittelfristig Demokratie und Stabilität organisieren will, muss mit multilateralem Ansehen auftreten. Als US-Marionette zu erscheinen ist in einem islamischen Land aussichtslos.
  • In Afghanistan werden weitere Truppenkontingente dringend benötigt. Amerika hat hier die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht.
  • Frieden im Nahen Osten wird nur möglich sein, wenn die internationale Staatengemeinschaft die Garantie der Sicherheit für alle Konfliktparteien übernimmt. Die Auseinandersetzung wird sonst immer wieder in Gewalt münden.
  • Einen vernünftigen Dialog mit dem Islam wird es nicht geben, wenn man dies den Amerikanern überlässt. Dazu sind die Stereotypen zu vorbelastet und aggressiv.
  • Wer die weltpolitische Machtarchitektur der Zukunft aufbauen will, der muss China und Japan, Indien und Russland einbeziehen. Keine dieser Weltmächte der Zukunft will sich mit der heute noch dominierenden Macht USA allein ins Benehmen setzen. Niemand will sich unterwerfen. Zur Machtbalance sind immer mehrere Staaten notwendig. Das ist die Stunde Europas.
  • Wer den Terror bekämpfen will, benötigt ein weltweites Netzwerk. Das hohe Maß an Differenzierung des professionellen Terrorismus kann keine Macht allein beantworten.
  • Die Kontrolle und Reduzierung von Massenvernichtungswaffen gelingen nur einer effektiv organisierten Völkergemeinschaft. Sonst bleibt das Wettrüsten ungebremst.
  • Wenn es einen überzeugenden Grund für westliche Zusammenarbeit gibt, dann genügt ein Blick auf die Sicherung der Energieressourcen und den Schutz des Klimas. Jeder Staat allein würde zum bloßen Spielball der Machtinteressen von Energiehegemonen werden.

Die Agenda westlicher Herausforderungen früherer Jahrzehnte war immer wesentlich kürzer. Mal ging es um Berlin-Ultimaten, mal um Modernisierung oder Abbau von Raketen, mal um Abschreckungspolitik, mal um Entspannung. Nie war der Westen mit einer solch umfangreichen Liste gemeinsamer Aufgaben bedacht.

Es mag paradox erscheinen: Zur Antwort steht nur eine kleine Zahl höchst traditioneller Instrumente zur Verfügung: Nato, Wirtschaftsrat, Gipfeltreffen EU-USA. Von diesem Instrumentarium kann keine neue strategische Gemeinschaftsbildung ausgehen. Es sind ja auch keine europäischen Themen, die transatlantisch wahrgenommen werden. Es handelt sich um eine dramatische Schieflage. Barack Obamas charismatische Strahlkraft liegt in einer neuen Bewegung, nicht in einer traditionellen Partei. Ähnliches ist – wenigstens in Ansätzen – in Europa wahrzunehmen.

Soll der Westen ein politischer Akteur bleiben, wird dies nur einem kreativen Schritt zu neuer strategischer Rationalität gelingen können. Gemeinsame Daten, gemeinsame Auswertung, gemeinsame Prioritätensetzung, Definition von Zielen und Interessen im Alltag – nicht als lockere Besonderheit: So müsste die Strategiegemeinschaft profiliert sein. Gegenwärtig ist dies nicht wahrzunehmen. Der längsten Liste von Herausforderungen steht die kürzeste Liste von Antworten gegenüber. Eine neue Kultur strategischer Kreativität steht noch aus.


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