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Europas strategische Herausforderung

Deutsch-französische Konferenz zur europäischen Außen- und Nachbarschaftspolitik

17.06.2011 · C·A·P




Unterschiedliche Perspektiven: Nachwuchswissenschaftler von insgesamt zehn deutschen und französischen Universitäten stellten auf der Konferenz ihre Forschungsergebnisse vor.

Am 9. und 10. Juni 2011 fand am Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) in München die deutsch-französische Doktorandenkonferenz „The European Union and Its Neighbourhoods: Concepts, Constructions and Strategies of European Foreign Policy“ statt. Die Teilnehmer untersuchten die Akteursqualität der Europäischen Union in ihrer unmittelbaren und erweiterten Nachbarschaft und diskutierten konzeptionelle Fragen zur Analyse europäischer Außen- und Nachbarschaftspolitik. Der Lehrstuhl für Politische Systeme und Politische Einigung am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München hatte die Konferenz gemeinsam mit dem Centre d’études européennes der Sciences Po Paris organisiert.

Eigene Forschungsergebnisse wurden auf der Konferenz von sechzehn Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler präsentiert. Diese kamen nicht nur von den Projektträgern LMU und Sciences Po, sondern auch von der Viadrina in Frankfurt/Oder, der Universität der Bundeswehr München, der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, der TU Dresden und den Universitäten in Greifswald, Köln, Cergy-Pontoise und Straßburg. Daneben nahmen mehrere Gasthörer an der Konferenz teil, etwa von der Andrássy Universität in Budapest oder von Think Tanks wie dem Open Society Institute.


Engagierte Positionen: Der frühere tunesische Minister und langjährige Botschafter Prof. Dr. Mongi Bousnina (rechts) skizzierte die Vision eines euro-mediterranen Machtzentrums. Links von ihm die beiden Projektkoordinatoren Edmund Ratka (LMU) und Olga Spaiser (Sciences Po).

Eröffnet wurde die Konferenz von Edmund Ratka, der das Projekt in München koordiniert hatte. Ratka unterstrich die gegenwärtige Brisanz des Konferenzthemas. Der „arabische Frühling“ habe die Notwendigkeit einer kohärenten, effizienten und strategisch ausgerichteten Politik der Europäischen Union in ihrer Nachbarschaft erneut deutlich gemacht. Derzeit werde die Reform der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) stark diskutiert, wie anhand des Kommissionsvorschlages zur ENP vom 25. Mai 2011 ersichtlich werde. Vor diesem Hintergrund sei Ratka zufolge die inhaltliche Zielsetzung der Konferenz eine zweifache. Zum einen wolle sie einen Beitrag zur empirischen Analyse der ENP leisten, Probleme benennen und neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. Zum anderen gehe es darum, konzeptionelle Ansätze zu diskutieren, mit welchen die besondere Natur europäischer Außen- und Nachbarschaftspolitik, einschließlich des Zusammenspiels der nationalen und europäischen Ebene, wissenschaftlich erfasst und untersucht werden könne.

Das darauffolgende „Opening Panel“ wurde von Olga Spaiser moderiert, der Koordinatorin des Projekts an der Sciences Po. Spaiser stellte die gegenwärtige Krisensituation der Europäischen Union dar und erläuterte anhand von Beispielen wie dem Libyen-Konflikt, wie schwer sich die Europäer tun, gemeinsame Antworten auf die Herausforderungen in ihrer Nachbarschaft zu finden. Professor Dr. Werner Weidenfeld, Lehrstuhlinhaber am Geschwister-Scholl-Institut und Direktor des C·A·P, zeigte in einer historisch angelegten Analyse auf, wie es Frankreich und Deutschland in der Geschichte der europäischen Integration immer wieder gelang, selbst divergierende Interessen zu bündeln und in ein europäisches Lösungspaket zu überführen. Heute fehle es indes am gegenseiteigen Verständnis in beiden Ländern sowie am strategischen Willen, Europa zu einem internationalen Akteur zu machen. Professor Dr. Zaki Laïdi verwies ebenfalls auf die mangelnde Strategiefähigkeit Europas, hob aber auch die wachsende Bedeutung der französisch-britischen Kooperation hervor, wie sie nicht zuletzt die gemeinsame militärische Intervention in Libyen vor Augen führe. Auch wenn die EU ihre globale Identität auf ihre normative Macht gestützt sehen wolle, müsse sie sich doch in einem von hard power geprägten internationalen Umfeld behaupten. Hierzu gelte es jedoch eine Außenpolitik zu etablieren, die über eine Nachbarschaftspolitik hinausgeht. Prof. Dr. Mongi Bousnina von der Universität Tunis, der Tunesien lange als Minister und Botschafter gedient hatte, erläuterte die aktuellen Entwicklungen im südlichen Mittelmeerraum. Er forderte ein stärkeres Engagement Europas in der Region und zeichnete die Vision eines euro-mediterranen Raumes, der mit 900 Millionen Menschen zu einem demokratischen und prosperierenden Machtzentrum in der neuen Weltordnung werden könne.


Kritische Fragen: Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld (Direktor des C·A·P, LMU) und Prof. Dr. Zaki Laïdi (Sciences Po) diskutierten mit dem Plenum die mangelnde Strategiefähigkeit Europas.

Das erste Doktorandenpanel, das von Dr. Patrick Müller vom Institut für europäische Integrationsforschung in Wien geleitet wurde, beschäftigte sich mit der europäischen Politik gegenüber der südlichen Nachbarschaft. Morgane Gertz (Paris) und Edmund Ratka (München) stellten jeweils ein analytisches Modell vor, mit dem sich die Europäisierung nationaler Außenpolitik untersuchen lässt, und wandten es auf die Mittelmeerpolitik Frankreichs bzw. Deutschlands an. Sowohl Gertz als auch Ratka legten dar, wie beide Länder auf den Europäisierungsdruck reagierten und wie sie versuchten, nationale Präferenzen auf die europäische Ebene zu projizieren. Jan Busse (Berlin/München) formulierte einen sozialkonstruktivistisch geprägten Ansatz, mit welchem er die deutsche Politik gegenüber dem Nahost-Konflikt in den Fokus nahm. Gemeinsam mit dem Plenum diskutierte er, inwieweit sich derzeit eine Modifizierung der deutschen Position in der Nahost-Frage beobachten lässt. Michael Bauer (München) stellte schließlich ein empirisches Papier vor, in welchem er die europäische Politik gegenüber den Golfstaaten untersuchte. Bauer plädierte für eine stärkere Einbindung des Golf-Kooperationsrates (GCC) und zeigte mögliche Grundlinien einer kohärenten Golf-Strategie der EU auf.

Der Vormittag des zweiten Konferenztages war den Nachbarn der Europäischen Union im Osten gewidmet. Geleitet wurde das Panel von Dr. Florent Parmentier von der Sciences Po Paris. Ein Blick in den erweiterten östlichen Nachbarschaftshorizont bildete den Einstieg. Olga Spaiser (Paris) zeigte anhand der EU-Zentralasienstrategie auf, wie die EU eine Politik der „großen Nachbarschaft“ konstruiert. Sie argumentierte, dass diese Politik eine Ergänzung der Östlichen Partnerschaft darstelle und legte anhand einer Diskursanalyse dar, inwiefern der normative Anspruch der EU gegenüber strategisch bedeutenden Staaten in Zentralasien an Bedeutung verliert. Sebastian Schäffer (Greifswald) nahm die konfliktreichen Beziehung zwischen EU und Russland in den Fokus. Seiner kritischen Evaluierung, in der er vor allem auf die institutionelle Unsicherheit auf beiden Seiten verwies, folgten konkrete Empfehlungen an die Brüsseler Politik. Auch Marco Siddi (Köln) betrachtete die EU-Außenpolitik gegenüber Russland und fragte nach dem Einfluss von nationalen Identitätskonstruktionen auf diese. Anhand von drei Fallbeispielen (Litauen, Polen, Deutschland) zeigte er auf, inwieweit das historische Gedächtnis der Mitgliedstaaten die heutige EU-Außenpolitik beeinflusst.


Großer Andrang: Zu den Gasthörern in der Bibliothek des C·A·P zählte auch der Geschäftsführer des Geschwister-Scholl-Instituts, Dr. Lars Colschen (dritter v. r.).

Der zweite Teil des Panels bezog sich auf die Staaten, die nominell Teil der östlichen Dimension der ENP sind. David Rinnert (Paris/Berlin) analysierte in seinem Beitrag den Einfluss der EU-Nachbarschaftspolitik auf die Reform- und Transformationsprozesse in Georgien. Er schlussfolgerte, dass eine Mitgliedsperspektive die Demokratisierung der europa-freundlichen südkaukasischen Republik bedeutend beschleunigen würde. Alina Homorozean (Dresden) untersuchte die verschiedenen EU-Initiativen gegenüber der Schwarzmeerregion und stellte kritisch die mangelnde Kohärenz der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten als eines der Hindernisse auf dem Weg zu einer effektiven Regionalpolitik in dieser strategisch bedeutenden Region heraus. Ob die Schwarzmeerregion eine Grenze der EU darstellt, fragte aus einer historischen Perspektive Ludwig Roger (Cergy-Pontoise). Er legte dar, wie die Europäische Union den Schwarzmeer-Anrainern einen jeweils unterschiedlichen Status verleihe.

Dr. Katrin Böttger vom Institut für Europäische Politik in Berlin leitete das dritte Doktorandenpanel, das sich mit Querschnittsthemen europäischer Nachbarschaftspolitik beschäftigte. In den ersten vier Beiträgen standen Demokratie und Zivilgesellschaft im Mittelpunkt. Der Demokratieförderungsansatz der EU gegenüber den osteuropäischen Staaten war der Gegenstand der Präsentation von Irene Hahn (Frankfurt/Zürich). Sie stellte vier verschiedene Ansätze vor und diskutierte sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Osterweiterung und der östlichen Partnerschaftspolitik. Diese Perspektive wurde von Natasha Wunschs (Paris/Berlin) Beitrag ergänzt. Wunsch nahm die substaatliche Ebene in den Blick und analysierte die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Strukturen seitens der EU gegenüber Beitrittskandidaten und Nachbarschaftsländern. Filipa Bismarck Coelho (Straßburg) zeichnete aus juristischer Perspektive die Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik nach und stelle sie als eine Alternative zur Erweiterungspolitik dar. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff nahm Daniel Grotzky (München) vor. Grotzky zeigte Inkohärenzen im europäischen Demokratie-Diskurs auf und stellte zur Diskussion, inwieweit sich die Europäische Union mit dem Demokratiebegriff von ihren Nachbarn abgrenze bzw. unterschiedliche Kategorien von Nachbarn definiert.

Im zweiten Teil des Panels, der Fragen der Sicherheit und Energie gewidmet war, stellte Nicolas Fescharek (Paris) das Konzept des „Civil Crisis Managements“ der EU auf den Prüfstand und argumentierte, dass das von Realismus geprägte Sicherheitsparadigma weiterhin die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dominiere. Bernd Weber (Paris/München) verglich schließlich die EU-Energiepolitik gegenüber zwei bedeutenden Energielieferanten in der südlichen Nachbarschaft (Algerien) und der östlichen Nachbarschaft (Aserbaidschan) und diskutierte verschieden Kriterien, um diese zu evaluieren.

In seinen Schlussfolgerungen strich Edmund Ratka noch einmal die Herausforderung für die Europäische Union heraus, eine Balance zwischen östlicher und südlicher Partnerschaft zu finden, zwischen normativen Vorstellungen und materiellen Interessen, zwischen soft und hard power, zwischen carrots und sticks. Ratka zufolge habe sich aus den Konferenzbeiträgen eine überwiegend kritische Bestandsaufnahme europäischer Außen- und Nachbarschaftspolitik ergeben. Allerdings sei zugleich auch das Potenzial sichtbar gemacht worden, welche Akteursqualität die Europäische Union in ihrer unmittelbaren und erweiterten Nachbarschaft entfalten könne. Für die wissenschaftliche Analyse hätten sich zentrale Forschungsaufgaben wie die Konzeptionalisierung von Europäisierung, das Messen der Effizienz von Außenpolitik, sowie die Integration von norm- und wertbasierten Ansätzen herauskristallisiert. Ein Abend- und Kulturprogramm rundete die Konferenz ab, die von zwei studentischen Mitarbeitern der LMU, Günter Leinfelder und Felix Wegmann, souverän betreut worden war.


Das Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft und die Sciences Po Paris bauen mit dieser gemeinsamen Doktorandenkonferenz ihre Kooperation weiter aus. In der Folge der Konferenz soll ein länderübergreifendes Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlern entstehen, das sich mit der Rolle der Europäischen Union in ihrer unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft auseinandersetzt. Möglich gemacht wurde die Veranstaltung durch eine finanzielle Förderung seitens der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) und des Graduate Center der LMU.

Bericht: Edmund Ratka/Olga Spaiser


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