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Abschied vom Gemeinsinn? Wege aus der Misstrauensgesellschaft

Von Werner Weidenfeld.

Diese Schlagzeilen verheißen nichts Gutes: prominente Steuerflüchtlinge, schwierige Nachwuchssuche bei den Feuerwehren und immer wieder Fälle von unterlassener Hilfeleistung in Notsituationen. Wie steht es um den Gemeinsinn in Deutschland?

21.05.2013 · Evangelische Zeitung Niedersachsen



Man könnte es sich einfach machen. Das Urteil ist schnell gefällt. Da ist eine Gesellschaft auf einem kompletten Egotrip. Die täglichen Schlagzeilen von Exzessen an Gier und Neid, von Egozentrismus und Gemeinschaftsverachtung liefern dramatisches Anschauungsmaterial und bannen die Aufmerksamkeit. In dieser verheerenden Zuspitzung eines normativen Verfalls bleibt dann wohl nur noch die rationale Erinnerung an die dialektische Struktur menschlicher Existenz übrig: die unauflösbare Verbindung von Personalität und Sozialität. Mein ‚Ich’ erfahre ich als Teil des ‚Wir’. Und dann könnte man seelsorgerlich appellieren, daraus doch das moralisch Gute zu formen.

Diese vergleichsweise simple Beantwortung der Frage, ob wir Abschied vom Gemeinsinn genommen haben, trägt nicht, sobald wir das empirische Datenmaterial sensibel zur Kenntnis nehmen: Mehr als 30 Prozent der Bevölkerung engagiert sich sozial – von der Altenhilfe über die ehrenamtliche Gestaltung von Kinderfreizeitprogrammen bis hin zum Sportverein. Weitere 30 Prozent würden sich gern sozial im praktizierten Gemeinsinn engagieren, wenn sie nur wüssten, wie. Ein hoher Prozentsatz der bereits engagierten Personen würde sich gern noch stärker engagieren, wenn sie nur wüssten, wie.

Ganz offenbar ist die Struktur der Gesellschaft – auch in ihrer Europäisierung und Internationalisierung – zu komplex, zu intransparent, zu unfassbar. Wie soll sich da eine Partizipationskultur entfalten, die Formen der Umsetzung von Gemeinsinn eröffnet? Welche Struktur ist dazu als legitim anzusehen? Wem kann ich in dieser Misstrauensgesellschaft denn vertrauen, wenn ich eine Frage zum praktizierten Gemeinsinn habe? Der Vertrauensentzug hat in dieser Gesellschaft fast alle Institutionen erfasst – Parteien wie Kirchen, Stadtverwaltungen wie Verbände, Banken wie Massenmedien. Das empirische Datenmaterial vermittelt eine klare Botschaft: Wir leben in einer Gesellschaft voller Bereitschaft zum Gemeinsinn – und zugleich in einer Gesellschaft, die nicht hilft, diese Bereitschaft zum Gemeinsinn in Praxis des Gemeinsinns zu übersetzen. Eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht muss die Türen zum praktizierten Gemeinsinn öffnen. Dazu bedarf es offenkundig möglichst vieler Lotsen des Gemeinsinns.