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Europas Verfassung diagnostiziert

Ungewissheit um künftige Identität und Struktur

08.07.2006 · Neue Zürcher Zeitung



Mit Europa und seinem institutionellen Kern, der Europäischen Union, ist auf absehbare Zeit "kein Staat zu machen". Weder ist die EU in einer Verfassung, die besonders überzeugend und - jenseits zusätzlicher Erweiterungen - zukunftsträchtig erscheint. Noch besteht unter ihren nunmehr 25 Mitgliedstaaten auch nur annähernd Übereinstimmung darüber, wohin und mit welchem Endziel die institutionelle Reise gehen soll. Die Optionen und Vorstellungen hierzu - vom lange Zeit erträumten und immer blasseren Bundesstaat über einen lockeren Staatenbund bis hin zu einer institutionell minimal abgesicherten Freihandelszone oder einem in unterschiedlicher Integrationsdichte gebündelten Verbund - sind fast so zahlreich wie die Mitgliedstaaten selber.

Ein verfassungspolitischer «Baedeker»

Eine eindeutige Antwort oder Richtung hat die vorderhand im Schwebezustand befindliche Europäische Verfassung nicht zu geben vermocht. Das Nein ausgerechnet der Franzosen sowie der einst "ureuropäischen" Niederländer wiegt schwerer als das oft nur routinehaft eingeholte Ja mehrerer nationaler Parlamente. Und selbst jene, die trotz den beiden Nein ihre Hoffnungen auf einen Kompromiss nicht aufgeben, müssen damit rechnen, dass die Referenden in Grossbritannien und in Dänemark - wenn es dazu überhaupt noch kommt - der Verfassung wohl endgültig den Garaus machen werden. Man mag einen solchen Ausgang angesichts eines bisher einzigartigen Integrationsprozesses bedauern. Denn allen Unzulänglichkeiten und bürokratischen Ausschweifungen zum Trotz hat die schrittweise Einigung und dann Erweiterung eine vielfach positive Wirkung gehabt. Auch boten die zugegebenermassen reichlich komplizierten Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza schon das Grundmuster für den am 29. Oktober 2004 in Rom feierlich verabschiedeten Verfassungsvertrag.

Inzwischen ist eine Reihe von Wegleitungen zum besseren Verständnis dieses keineswegs leicht zugänglichen Dokuments erschienen. Zu ihnen gehört eine Publikation von Werner Weidenfeld - Direktor des in München angesiedelten Center for Applied Policy Research - und Mitarbeitern. In ihr wird keineswegs unkritisch, aber stets informativ, mit Hilfe von Tabellen und Schaubildern, dem Prozess der europäischen Einigung in seinen verschiedenen Etappen und den ihn stützenden Strukturen nachgegangen. Dem folgt eine Darstellung von Entstehung und Aufbau der Verfassung und der vorgesehenen Umsetzung in die praktische Politik. Endlich liegt also ein verständlicher "Führer" nicht nur durch die Verfassung selber, sondern auch für den nicht störungs- und unfallfreien Weg zu ihr vor.

Neue Ansätze gesucht

Zu spät kommen solche Versuche zur Erklärung und Deutung europäischer Befindlichkeit vielleicht für jene, die dem ganzen Prozess einer "Säuberung" und Vereinfachung des unglaublich verkrusteten und verbürokratisierten Rankenwerkes der Brüsseler Institutionen keine oder nur wenige Erfolgschancen einräumen. Sie weisen - nicht zu Unrecht - darauf hin, dass mit dem Vertrag von Nizza 2000 das damals und wohl auch heute noch gerade Mögliche erreicht wurde. Auf der anderen Seite stehen jene, die gerade deswegen nach Instrumenten und Ansätzen suchen, um die Union aus dieser Stagnation herauszuführen. Weidenfelds Diagnose hierzu ist durchaus zutreffend: Der EU fehle nicht nur eine klare politische Identität, sondern auch der rechtliche Rahmen, der diese Identität in ihrer Natur, ihrem Umfang und ihrer Mission festlege. Eine solche ebenso zutreffende wie ernüchternde Diagnose erhält ihre volle Bedeutung, wenn man sich fragt, ob und wie eine so unfertige EU ihr durchaus beachtliches Gewicht auf der internationalen Ebene entsprechend einbringen kann oder könnte und was von ihr dann zu erwarten wäre.

Divergenzen zur strategischen Rolle

Die EU ist vor allem ein wirtschaftliches Schwergewicht. Wenn es jedoch um strategisch gewichtige oder kurzfristig geforderte Entscheidungen geht, dann offenbart sich ihre komplexe und langatmige Entscheidungsfindung oder schlicht ihre fehlende oder lückenhafte Kompetenz. Kein Wunder, dass die Erwartungen gegenüber der EU und deren Bewertung als internationaler Akteur recht unterschiedlich ausfallen. Dies nicht zuletzt bei den neuen EU-Mitgliedstaaten. Sie durchlaufen derzeit - wie das Beispiel Polens zeigt - einen Prozess vielleicht gelegentlich schmerzhafter, aber klärender Ernüchterung. Das kommt sehr deutlich zum Ausdruck in immer wieder zu hörenden Äusserungen von an sich der EU gegenüber durchaus positiv eingestellten jüngeren Wissenschaftern und Journalisten.

Eine gute Illustration hierfür bietet der von Stefan Fröhlich, Professor in Erlangen, und Esther Brimmer von der Johns Hopkins University in Washington herausgegebene Band über die strategischen Auswirkungen der EU-Erweiterung. An die zwanzig Experten aus mehreren EU-Ländern und den USA beleuchten die verschiedenen Facetten, die der bisher grösste Erweiterungsschritt nicht nur für die EU selbst, sondern auch für die Umwelt mit sich bringt. Zu diesem weit ausholenden Meinungsaustausch zählen nicht nur Stimmen aus den "alten" EU-Ländern - so jene der Deutschen Ulrike Guérot -, sondern zumal auch solche aus den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa - wie Laszlo Kiss aus Ungarn. Weitere Autoren widmen sich dem Mittelmeerraum (Lothar Rühl), der Türkei (Henry Barkey und Anne-Marie Le Gloannec) und schliesslich den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen (Antonio Missiroli).

Viele dieser Autoren kommen zum Schluss, dass die Grosserweiterung der EU vorderhand politisch, finanziell und erst recht institutionell noch sehr viele Fragen offen lässt - von den heute bereits absehbaren Erweiterungsschritten ganz abgesehen. So unvermeidlich sie als längst überfällige Geste der Überwindung einer vierzigjährigen Spaltung des Kontinents war, so spannungsgeladen wird sie auf längere Sicht hinaus bleiben. Denn hier treffen zwei sehr unterschiedliche Ländergruppen aufeinander, von denen die "östliche" - zu Recht oder Unrecht - meint, die westeuropäische "schulde ihr etwas". Dies führt denn auch den deutschen Herausgeber zur Hoffnung, dass gerade diese neuen EU-Länder Druck zugunsten längst überfälliger Reformen ausüben werden. Das ist bis heute nicht geschehen. Damit muss man wohl endgültig Abschied nehmen von jenem vereinten Europa, das sich seine Gründungsväter erträumt haben.

Klärung der Legitimation

Eine solche Perspektive weckte weniger Bedenken, gäbe es eine gleichsam als einigende äussere Klammer und innerer Ordnungshüter dienende Verfassung. Es lohnt sich deshalb, über Idee und Inhalt und damit die künftige Gestaltung der EU genauer nachzudenken. Kaum jemand hat dies in letzter Zeit gründlicher getan als die junge deutsche Wissenschafterin Bettina Thalmaier. In ihrer zunächst als Dissertation konzipierten Studie geht sie den "integrationstheoretischen Hintergründen und Perspektiven einer Reform" der EU nach. Es geht der Autorin um die Suche nach der künftigen Verfasstheit der EU, nach dem Gleichgewicht zwischen Union und Mitgliedstaaten, um die Rolle der Bürger und, am wichtigsten wohl, um die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen.

Die Feststellung von Weidenfeld könnte etwa der Leitfaden von Thalmaiers Untersuchung sein - nämlich die Notwendigkeit, endlich die Endbestimmung der Union festzulegen. Weder das verfassungsmässige noch das institutionelle Ziel wurde bisher definiert. Vielleicht war das unvermeidlich. Heute aber erweist sich dieses Manko als zunehmend gravierend. Denn eines hat sich seit der Erweiterung vor zwei Jahren überdeutlich gezeigt: Die EU wird gewiss als willkommene wirtschaftliche Verankerung und Finanzquelle gesehen. Darüber hinausgehende Vorstellungen über das politische Endziel, einschliesslich Europas Stellung und Mission in der Welt, lassen sich kaum ausmachen.

Hier nun setzt Thalmaier nach einer detaillierten Darstellung der integrationspolitischen Paradigmen und der vielfältigen möglichen Formen von Gestalt, Legitimierung und Finalität der EU an. Sie kommt zu einem auch heute noch keineswegs selbstverständlichen doppelten Schluss. Einmal zur These, dass sich das Integrationsziel nicht nach überkommenen, auf nationalstaatliche Modelle fixierten Konzeptionen und Leitbildern richten sollte. Vielmehr sei als Massstab die Überlegung zu nehmen, welche Institutionen für die EU in Funktion ihrer eigenen Spezifität und ihrer "Mission" zweckmässig sein können. Die Frage, welches denn diese "Mission" sein soll, ist bis heute allerdings entweder nur sehr vage oder widersprüchlich beantwortet worden.

Begrenzte Perspektiven der Demokratie

Zum Zweiten folgt, ebenso mutig wie bedenkenswert, die Feststellung der Autorin, dass in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten viele, vorderhand nur theoretisch geforderte Funktionsbedingungen von Demokratie nicht optimal verwirklicht seien. Derartige Schwächen müssten deshalb auch bei den an die EU angelegten Massstäben berücksichtigt werden. Mit anderen Worten: Die EU wird nur so demokratisch und innovationsfähig sein, wie es ihre Mitglieder selber sind und es auch für die EU wollen. Damit werden indirekt auch die Konturen und Grenzen einer EU-Verfassung - so es denn eine solche geben wird - angedeutet. - Wie man sieht: Das Thema "Europa" und "europäische Einigung" gewinnt immer neue Facetten. Es zwingt zugleich zu kritischen Fragen über das "Wie weiter?". Hier leistet Thalmaiers Buch einen erfrischend kritischen und weiterführenden Beitrag. Zugleich illustriert es, dass es keinen anderen Kontinent gibt, in dem auch nur annähernd so intensiv über die eigene Zukunft und deren politisch-institutionelle Bewältigung nachgedacht wird. Das ist vielleicht das Ermutigendste, was sich zum Europa von heute sagen lässt.

Curt Gasteyger

Werner Weidenfeld: Die Europäische Verfassung verstehen. Verlag Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2006. 114 S., Fr. 26.-, Euro 15.-.

Esther Brimmer and Stefan Fröhlich (Hg.): The Strategic Implications of European Union Enlargement. Center for Transatlantic Relations, Johns Hopkins University, Washington 2005. 412 S., Fr. 43.40.

Bettina Thalmaier: Die zukünftige Gestalt der Europäischen Union. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005. 475 S., Fr. 117.-, Euro 69.-.


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