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Heros im Nebel

Werner Weidenfeld über die Lücken in Kohls Erinnerungen und große Unterschiede zu heutigen Akteuren.

16.11.2005 · Focus 46/2005



Helmut Kohl will ein zweites Mal Geschichte schreiben. Nachdem er als Bundeskanzler und CDU-Parteivorsitzender einer Ära den Stempel aufgedrückt hat, will er nun im Rückblick mit seinen "Erinnerungen" dieser Zeit ein verbindliches Interpretationsprofil geben. Künftige Historiker sollen ihr Wissen aus dieser speziellen Quelle schöpfen - so sein expliziter Wunsch.

Das Buch behandelt die große Zeit des Helmut Kohl. Er beginnt mit dem Tag, an dem sich sein Lebenstraum - die Kanzlerschaft - erfüllt. Er endet mit dem alles überstrahlenden historischen Erfolg - der deutschen Einheit. Dazwischen liegen altersmilde Geschichten, schlichte Buchhalterberichte, strahlende Lobeshymnen auf die staatsmännischen Freunde Bush, Mitterrand, Gorbatschow und die scharfe Kritik an den innenpolitischen Feinden von Weizsäcker, Geißler, Blüm, Süssmuth.

Unerbittlich rechnet er ab mit seinen zu politischen Gegnern mutierten ehemaligen Weggefährten - wobei er darüber hinwegsieht, wie viel er selbst in seiner politischen Karriere diesen so heftig Gescholtenen verdankt.

Nach wie vor unbeantwortet bleibt zudem die spannende Frage, wieso die besten Talente, die Kohl einst um sich sammelte, sich irgendwann gegen ihn stellten. Es kann doch nicht sein, dass die Lichtgestalt des Edlen von einem Kreis illoyaler Monster umzingelt war.

Über vieles, was seine Ära prägte, legt Kohl den zarten Nebelschleier der Unschärfe. Heute ist die wissenschaftliche Erforschung der Zeitgeschichte weiter als Kohls "Erinnerungen".

Wie eine schallende Ohrfeige für die zurzeit dominierende technokratische Oberflächlichkeit der Politik lesen sich die Seiten über die Entstehung der ersten Regierungserklärungen Kohls 1982 und 1983. Auch damals wurde die ökonomische Notlage mit einem Sofortprogramm beantwortet. Aber entscheidender war der konzeptionelle Überbau - das, was Kohl die "geistig-moralische Wende" nannte. In Kohls Augen würde alles wirkungslos bleiben, wenn es nicht gelänge, das Denken und Handeln der Bürger grundlegend zu verändern.

Zu den engagiertesten und rührendsten Darstellungen des Buches gehört Kohls Verhältnis zum amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan mit dem Besuch auf dem Soldatenfriedhof Bitburg. Kohl hatte Reagans Sympathie erworben, als er vor dessen Präsidentschaft der einzige Bonner Spitzenpolitiker war, der Reagan bei seinem Deutschland-Besuch empfing.

Wie parallel sie mental veranlagt waren, fanden die Regierungschefs bald heraus: Beide glaubten an einige wenige elementare politische Ideen, und beide hatten eine Neigung zur symbolischen Inszenierung. Das führte zum umstrittenen Besuch in Bitburg.

Kohl enthüllt in seinen Erinnerungen erstmals, dass er angesichts des immensen öffentlichen Drucks Ronald Reagan eine Verschiebung des Besuchs angeboten hat. In diesem Zusammenhang hätte er erwähnen sollen, dass er Reagan auch einen anderen Besuchsort vorschlagen wollte.

Der dramatische Höhepunkt der Amtszeit Kohls - Mauerfall und deutsche Einheit - gerät auch zum spannendsten und dichtesten Teil des Buches. Die ganze historische Tragweite der Ereignisse wird detailliert greifbar. Aber selbst hier gießt Kohl alles in die Einheitsform, die seine politische Weitsicht und seinen politischen Erfolg belegen soll. Dabei war die Bundesregierung weder auf den Mauerfall vorbereitet, noch hat sie anschließend sofort das strategische Ziel der Einheit präzise angesteuert. Vielmehr setzte die Bundesregierung nach dem Mauerfall zunächst auf die Stabilisierung der DDR.

Erst mit Kohls Besuch in Dresden am 19. Dezember 1989 fand der Kurswechsel statt, auf direktem Wege die deutsche Einheit zu organisieren. Entsprechend fehlt in Kohls "Erinnerung" auch die Darstellung des Treffens mit Lech Walesa am 9. November 1989 vor Beginn des offiziellen Besuchsprogramms in Polen. Dabei forderte Walesa den Bundeskanzler auf, konkrete Vorbereitungen für den Fall der Mauer zu treffen.

Die Reaktion der deutschen Seite signalisierte Walesa, dass man ihn mental wohl nicht für voll nahm angesichts solch irrealer Phantasien. Wenige Stunden später fiel die Mauer. Wenn Walesa und Polens früherer Außenminister Bronislaw Geremek heute diese Geschichte immer wieder erzählen, so ist ihnen die Genugtuung anzumerken.

Nach der Öffnung der Mauer geriet die Regierung Kohl unter Druck, weil die neue DDR-Regierung unter Modrow schneller ein Konzept vorlegte, das mit der Schaffung einer Vertragsgemeinschaft durchaus einen attraktiven Slogan besaß. Kohl reagierte mit dem berühmten 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989. Er beschreibt nun auch die Gründe, warum er dieses Konzept mit niemandem abgestimmt habe. Lediglich den amerikanischen Präsidenten habe er vorab informiert.

Was Kohl offenbar bis heute nicht bekannt ist: Präsident Bush hat diese Information dennoch nicht vorher erhalten. Ein Mitarbeiter im Weißen Haus hatte augenscheinlich die Brisanz der Unterlagen nicht erkannt und nicht zügig an den Präsidenten weitergeleitet. Sie schmorten stattdessen auf dem Schreibtisch eines Referenten. Schließlich enthielt die Rede im wesentlichen ja Versatzstücke aus bekannten Dokumenten (Grundgesetz, Gipfelerklärungen, KSZE-Schlussakte) und war sonst betont offen formuliert. Die Bedeutung erhielt das Dokument nur dadurch, dass all jene Elemente, die früher bloß rhetorische Lippenbekenntnisse waren, nun zur operativen Politik gerieten.

Das Buch enthüllt - vielleicht unfreiwillig - viel von der Denk- und Handlungsstruktur Helmut Kohls. Da wird die Welt in loyale Freunde, treue Mitstreiter auf der einen Seite und illoyale Verräter, Gegner, Feinde auf der anderen Seite eingeteilt. Schwarzweißbilder werden gezeichnet.

Die entscheidende Bedeutung einer erklärenden Programmatik hat Kohl für die Politik erkannt. Seine Nachfolger sollten sich daran messen. Aber man spürt kein inneres Ringen um diese konzeptionelle Perspektive. Sie ist ungefragt da, wird von Helfern ausformuliert - und gerät für ihn selbst zum Instrument des Machterhalts. Viel intensiver werden parteiinterne Rochaden und taktische Schachzüge der Personalpolitik mit vielen Hintergründigkeiten erläutert. Da ist Kohl ganz in seinem Element.

Das Dreieck Kohl - Genscher - Strauß ist dabei eigentlich die entscheidende Facette jener Jahre, die wie ein roter Faden das Buch durchzieht. Dabei erscheint die Distanz, ja Gegnerschaft zu Strauß noch intensiver als bisher angenommen. Man beginnt die Selbstüberwindung dieser großen Rivalen zu bewundern, überhaupt in irgendeiner Weise kooperiert zu haben.

Insgesamt sind die "Erinnerungen" mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihren kalkulierten Lücken und Unschärfen das schriftliche Denkmal eines Mannes, der mit seiner Selbstgewissheit, seiner elementaren Verankerung in einigen Grundüberzeugungen, seiner taktischen Beweglichkeit wie ein Heros einer längst vergangenen Zeit wirkt. Angesicht der tagesorientierten Hektik und strategielosen Konfusion unserer Tage erinnert uns das Selbstbewusstsein des Helmut Kohl an das Inventar einer Republik, von der wir uns inzwischen verabschiedet haben. Ein Hauch von Nostalgie ist also nach der Lektüre gestattet.


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