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An einer europäischen Armee führt kein Weg vorbei

Nur in einem gemeinsamen Kraftakt können die neuen Herausforderungen bewältigt werden

Von Franco Algieri, Thomas Bauer und Jürgen Turek

29.09.2003 · Frankfurter Rundschau



Um im transatlantischen Bündnis in Zukunft eine gewichtigere Rolle spielen zu können, bedürfe es auch einer europäischen Armee, stellen Franco Algieri, Thomas Bauer und Jürgen Turek fest. Auch, wenn die Ausgangslage für große und riskante Missionen durch die EU derzeit nicht gut sei. Diese "Vereinigten Streitkräfte Europas" müssten sich auf einen europäischen Generalstab stützen, der unter der politischen Verantwortung einer gemeinsamen europäischen Regierung stehen soll. Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen EU und Nato bilde hierbei das Fundament.

Das Zusammenlegen nationaler Kapazitäten scheint der Ausweg aus dem militärischen Fähigkeitsdefizit in der Europäischen Union zu sein. Doch am Ende dieses Prozesses steht unweigerlich die Schaffung europäischer Streitkräfte.

Die EU sieht sich sowohl von innen wie von außen immer stärker mit der Forderung konfrontiert, weltweit mehr sicherheitspolitisches Engagement zu übernehmen. Entscheidend hierfür wird der umfassende Ausbau der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sein. Dies bedeutet mehr als nur eine Steigerung der zivilen Handlungsfähigkeit der EU. Doch in einer ersten Einschätzung muss festgestellt werden, dass es hinsichtlich des militärischen Potenzials der Union noch deutliche Defizite gibt.

Der Hohe Vertreter der Union für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, hat im Kontext seines Entwurfs für die strategische Gesamtausrichtung Europas, auf die Bedeutung der militärischen Glaubwürdigkeit der EU hingewiesen. Europa sei auf Grund seiner wirtschaftlichen Bedeutung und seiner Bevölkerungsgröße zum globalen Akteur verdammt, und müsse deshalb dafür Sorge tragen, dass es seiner Verantwortung für die globale Sicherheit gerecht werden kann. Unter dem Titel "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt" hat Solana die aus seiner Sicht wesentlichen Merkmale einer geostrategischen Vision Europas zu Papier gebracht.

Die drei wesentlichen Bedrohungskulissen für die Zukunft fasst das Papier unter den Begriffen Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Staatszerfall zusammen. Um diesen Gefahren angemessen entgegentreten zu können, müsse die EU für Stabilität und Demokratie in ihrer direkten Nachbarschaft sorgen, sowie den multilateralen und auf den Grundsätzen des Völkerrechts fußenden Ansatz der UN mit allen Mitteln unterstützen. Dies bedeutet in seiner Konsequenz auch die Bereitstellung notwendiger militärischer Mittel für die UN, falls nötig auch in präventiver Funktion. Dieses Ziel zur Schaffung einer europäischen strategischen Kultur, die zur schnellen, rechtzeitigen und wenn notwendig auch harten Intervention bereit ist, soll zu mehr politischem Gewicht der Europäischen Union führen, und damit eine verlässliche Stütze der UN schaffen. Außerdem sichere man sich damit den politischen Einfluss auf geostrategische Entscheidungen. Letzterer Aspekt ist mit Blick auf die unilaterale Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik beachtenswert.

Für den Aufbau der militärischen Mittel zur Konfliktregulierung liegen ebenfalls Vorschläge vor. So sieht der vom Europäischen Konvent erarbeitete Verfassungsentwurf die Schaffung eines Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten vor. Mittels unterschiedlicher Formen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik soll eine Grundlage für alle Mitgliedsstaaten geschaffen werden, sich an der Bereitstellung militärischer Fähigkeiten beteiligen zu können.

Bereits im Jahr 1999 legte der Europäische Rat in Helsinki hierzu einen Grundstein, indem sich die Staats- und Regierungschefs auf die Schaffung einer 60 000 Mann starken Europäischen Eingreiftruppe einigten. Diese im so genannten "Helsinki Headline Goal" manifestierten Vorgaben umfassen klare Streitkräfteforderungen und Fähigkeitskriterien, nach denen sich die Mitgliedstaaten bei einer möglichen Bereitstellung für die "European Rapid Reaction Forces" und ihren zukünftigen Streitkräfteplanungen zu richten haben. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich auf Basis einer freiwilligen Zusammenarbeit, bis 2003 die Eingreiftruppe voll einsatzfähig aufzustellen. Sie soll innerhalb von 60 Tagen verlegbar sein und über einen Zeitraum von einem Jahr im Einsatzgebiet verbleiben können. Das bedeutet unter Berücksichtigung der erforderlichen Einheiten zur Unterstützung beziehungsweise Ablösung der Truppenteile vor Ort ein Gesamtvolumen von 180 000 bis 200 000 Mann, die alle mit den erforderlichen Ausrüstungsgegenständen und Waffen ausgestattet und bestmöglich auf den Einsatz vorbereitet werden müssen.

In Form des "European Capability Action Plans" von 2001 wurden militärische Defizite ausfindig gemacht, mit deren Lösung sich nun Projektgruppen zu beschäftigen hatten. Dabei kristallisierten sich kurz- und langfristige Optionen heraus. Langfristig sollten die EU-Staaten sich auf die Schaffung moderner Streitkräfte einstellen, die untereinander und mit den USA interagieren konnten. Kurz- und mittelfristig wurde die Zusammenlegung nationaler Kapazitäten zur Erlangung europäischer Fähigkeiten vorgeschlagen. Fasst man beide Lösungswege zusammen, so deutet sich am Ende die Etablierung eines gesamteuropäischen Streitkräfteansatzes an. Eine theoretische Route scheint somit vorgegeben zu sein. Die Dringlichkeit zur Umsetzung dieses Ansatzes wird mit Blick auf die globale Konfliktlandkarte zusätzlich verstärkt. Aber die europäische Militärmacht ist in der Realität noch weit von ihren Vorgaben entfernt.

Die beiden Feldzüge in Afghanistan und Irak haben den Europäern deutlich gemacht, dass ihre einzelnen militärischen Kapazitäten im Verhältnis zur waffentechnologischen Übermacht der USA immer unbedeutender werden. Lediglich die Streitkräfte Großbritanniens sind derzeit in der Lage, im begrenzten Umfang mit den USA zusammenzuarbeiten. Frankreich, Spanien, Deutschland und Italien sind dagegen weit von den militärischen Möglichkeiten der Amerikaner entfernt. Eine Verbesserung der Situation ist unter den gegenwärtigen Strukturen nicht zu erwarten. Es fehlen einerseits die finanziellen Mittel, um die aufgedeckten Fähigkeitslücken in ausreichendem Maße schließen zu können, andererseits wird die angepeilte Interoperabilität, das heißt das Zusammenwirken der eigenen Streitkräfte mit denen der USA und Großbritanniens, durch nationale Alleingänge behindert.

Ein Ausweg aus der Situation scheint die bereits erwähnte Zusammenlegung nationaler Kapazitäten zur Erlangung multinationaler beziehungsweise europäischer Fähigkeiten zu sein. Dieses Vorgehen des "pooling of forces" stößt jedoch schnell an seine Grenzen, wenn die einzelnen Kontingente durch unterschiedliche Waffensysteme gekennzeichnet sind und nichtkompatible Führungs- und Kommandostrukturen eine Zusammenarbeit unmöglich machen. Die Schaffung von Zwischenebenen als Andockstationen für die verschiedenen Systeme und Strukturen minimieren den Mehrwert von multinationalen Verbänden. Die einzige bisher funktionierende multinationale Zusammenarbeit stellen die E-3A AWACS Frühwarnflugzeuge der Nato dar. Die von der Airbase Geilenkirchen in Deutschland aus operierenden Flugzeuge unterstehen direkt dem Nato-Hauptquartier.

Selbst wenn die selben Waffensysteme vorhanden sind, können diese nicht automatisch zusammengelegt werden. Ein Beispiel hierfür ist das Mehrzweck-Kampfflugzeug Tornado, welches in Europa von den Luftstreitkräften Großbritanniens, Italiens und Deutschlands eingesetzt wird. Die unterschiedlichen Konfigurationen und Rollenspezifikationen lassen eine gemeinsame Wartung beziehungsweise Einsatzführung nicht zu. Weitere Beispiele sind der von Krauss Maffei Wegmann produzierte Kampfpanzer Leopard 2, der in elf Nationen vorzufinden ist, und die Transportmaschinen Hercules C-130 und Transall C-160. Eine Zusammenlegung letzterer in Form eines gemeinsamen Lufttransportkommandos wird derzeit unter deutscher Federführung geplant, die Realisierung dürfte sich jedoch lediglich auf eine zentrale operative Führung beschränken, so dass die Wartung und logistische Versorgung der Maschinen weiterhin nationaler Verantwortung unterliegen.

Das aktuellste Beispiel für eine umfassendere Kooperationsmöglichkeit stellt ein Vertrag zwischen Polen und Deutschland dar, der am 24. Juni unterzeichnet worden ist. Hierin wird die logistische Unterstützung der 10. polnischen Panzerkavalleriebrigade in Swiestoszow durch die 7. deutsche Panzerdivision in Düsseldorf geregelt. Beide Einheiten setzen den Kampfpanzer Leopard 2 ein.

Keine Nation in Europa kann die Instrumentarien für umfassende Konfliktprävention und Konfliktregulierung alleine entwickeln. Hierin liegt der gegenwärtige Ansatz der rüstungstechnologischen Zusammenarbeit in Europa begründet. Die Komplexität moderner Waffensysteme erfordert arbeitsteilige Forschung, Entwicklung, Produktion und Beschaffung. Dadurch könnten zwei Probleme mit einem Schlag gelöst werden. Erstens vermeidet man die Duplizierung von Waffensystementwicklungen, wodurch die ansonsten verschwendeten Ressourcen für andere, wichtigere Projekte frei werden würden, und zweitens schafft man sich eine Basis für miteinander verknüpfbare Kapazitäten. Entwickelt man nach den gleichen Standards und Anforderungen ein gemeinsames System, besteht eine deutlich bessere Ausgangslage für die Schaffung multinationaler Fähigkeiten. Doch hierfür fehlt der politische Wille. Selbst der Eurofighter ist nicht für eine solche Struktur des "pooling of forces" vorgesehen, obwohl noch nicht einmal die ersten Serienmaschinen an die Teilnehmerländer ausgeliefert worden sind. Es existiert zwar ein eigenes Vertriebszentrum für alle am Eurofighter beteiligten Nationen, von einer echten Zusammenarbeit außerhalb der Entwicklung kann jedoch nicht die Rede sein. Die besten Aussichten, das erste von der Planung über die Beschaffung bis hin zur Einsatzunterstützung realisierte Europaprojekt zu werden, besitzt der vor kurzem in Auftrag gegeben A-400M Transporter.

Lastenteilung bei gleichzeitigem ökonomischem und sicherheitspolitischem Mehrwert ist der Kernpunkt für die europäische Integration im beginnenden 21. Jahrhundert. Dies gilt nicht nur für eine gemeinsame Rüstungspolitik, die sich im Rahmen des europäischen Verfassungsentwurfs im Ansatz erkennen lässt, sondern auch für deren direkten Nutznießer, die europäischen Streitkräfte. Deswegen muss der Blick über das "pooling of forces" hinausreichen. Denkt man die Strategie der finanziellen, personellen und politischen Lastenteilung auf dem Gebiet der ESVP bis zu ihrem Kulminationspunkt zu Ende, so kann am Ende dieses Prozesses nur die Schaffung europäischer Streitkräftestrukturen als logische Schlussfolgerung stehen.

Die neuen geostrategischen Herausforderungen können nur in einem gemeinsamen Kraftakt bewältigt werden. Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen EU und Nato gilt hierbei als zentrales Fundament. Die offenkundigen Fähigkeitsdefizite im Bereich des Lufttransports und der Luft-Luftbetankung sowie den unzureichenden Kapazitäten auf dem Feld der Aufklärung und der Raketenabwehr haben zur Einrichtung der "EU-Nato-Capability Group" geführt, die gemeinsame Strategien zur Behebung der Probleme führen soll. Europäische Kapazitäten sollen dadurch die europäische Säule im transatlantischen Bündnis stärken und einen gewichtigeren Einfluss auf die geostrategischen Entscheidungen der USA ermöglichen. Europäische Fähigkeiten können dann in einer europäischen Armee gebündelt werden, die über den Ansatz des "pooling of forces" hinausgehen. Multinationale Verbände, zum Beispiel das Eurokorps oder das Deutsch-Dänisch-Polnische Korps Nord-Ost, stellen derzeit eine Übergangsmöglichkeit dar. Man sollte sie jedoch nicht als Endpunkt der Streitkräfte-integration ansehen. Es gilt vielmehr, eine europäische Armee aufzubauen, gestützt auf einen europäischen Generalstab und unter der politischen Verantwortung einer europäischen Regierung. Die gegenwärtige Reformdebatte lässt jedoch nicht darauf schließen, dass dieses Ziel realisiert werden soll.

Unabhängig von den Vorlagen des Konvents und den Entscheidungen der in der zweiten Jahreshälfte tagenden Regierungskonferenz warten zahlreiche komplexe Herausforderungen auf dem Weg zu den "Vereinten Streitkräften Europas". Obwohl deren Mehrwert gegenüber nationalen und multinationalen Modellen durch die angeführte Analyse offenkundig ist, stellen sich die einzelnen Mitgliedsländer gegen einen solchen Entwurf. Grund dafür sind Bedenken in Bezug auf nationale Souveränitätsrechte und der Verweis auf nationale Zuständigkeiten, die einer Integration der bewaffneten Machtmittel in einem europäischen Verbund im Wege stehen. Bedenkt man die finanziellen Engpässe und die Unfähigkeit, das gegenwärtige Dilemma durch einzelstaatliche Lösungsansätze zu bewältigen, stehen nationale Vorbehalte gegen eine solche Zusammenarbeit im Widerspruch zu den eigenen nationalen Interessen.

Der gegenwärtige "bottom-up"-Ansatz, der eine Zusammenarbeit dadurch stärken möchte, in dem man vereinzelte Einheiten und Verbände grenzübergreifend näher zusammenführen möchte, lässt den politischen Willen außen vor. Ein "top-down"-Ansatz dagegen könnte die Planungen zwischen Regierungen und Streitkräfteführungsstäben erleichtern, da er eine klare Linie und eine klare Struktur vorgeben würde. Dieser "top-down"-Ansatz müsste sich vornehmlich um eine Angleichung der einzelstaatlichen Vorstellungen bemühen und in eine Art Fahrplan umgesetzt werden. Der Gesamtumfang europäischer Streitkräfte und deren Befehlsstrukturen müssten dabei ebenso analysiert werden wie die rechtlichen Aspekte der inneren Führung, einer gemeinsamen Wehrordnung und der Übertragung nationaler Befugnisse auf eine demokratische legitimierte europäische Ebene. Eine so entstehende europäische Wehrgerechtigkeit kann sich nicht aus dem Ansatz von unten nach oben ergeben.

Viele Aspekte der gegenwärtigen Diskussion um das militärische Potenzial der EU würden automatisch in diese Überlegungen mit einfließen. Die Debatte um einen europäischen Oberbefehl, die Schaffung einer europäischen Rüstungsagentur für die technologische Basis europäischer Streitkräfte, gemeinsame strategisch-analytische Kapazitäten, und die Position der EU im Verhältnis zur Nato könnten direkt in die Aufbauphase der Vereinten Streitkräfte Europas mit einbezogen werden. Auch die deutsche Diskussion um die Wehrpflicht könnte somit eine europäische Dimension erlangen. In einem erweiterten Europa der 25 bauen 18 Länder immer noch auf die Wehrpflicht. Die Schaffung gemeinsamer Strukturen könnte somit gleichzeitig auch gemeinsame Lösungsansätze für auftretende Probleme bei der Umstellung auf eine reine Berufsarmee liefern.

Betrachtet man die vorhergehenden Überlegungen, so liegt eine entscheidende Schwäche des Verfassungsentwurfs darin, dass er keinen eindeutigen Bezug zur Schaffung europäischer Streitkräftestrukturen herstellt. Lediglich in Teil I findet sich der Verweis auf multinationale Verbände, die der EU für eine militärische Operation zur Verfügung gestellt werden können. Die Einbindung der "European Rapid Reaction Forces" in die Regelungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik fehlt ebenso. Will man eine Lösung diesbezüglich innerhalb der Union finden, dann muss bis zur Regierungskonferenz im Herbst diesen Jahres eine Option vorgelegt werden, die sowohl den Ansprüchen Europas, seinem strategischen Selbstverständnis und militärischen Bedürfnissen gerecht wird, als auch die nationalen Ressentiments gegenüber einer zentral geführten europäischen Armee berücksichtigt. Die Überwindung dieses Zwiespalts stellt eine zentrale Herausforderung für die Vertiefung der ESVP dar.

Sicherlich ist die gegenwärtige Situation keine gute Ausgangslage für die Übernahme größerer und riskanterer Missionen durch die EU, wie sie im Rahmen der erweiterten Petersberg Aufgaben im Vertragsentwurf bereits vorgelegt sind. Zu viele Unstimmigkeiten und finanzielle Nöte lassen nicht die Hoffnung aufkommen, dass nationale Bemühungen um multinationale Lösungsversuche zum Erfolg führen könnten. Herausforderungen an die erweiterte Europäische Union benötigen europäische Lösungen, die in ihrem Wert, aber auch ihren Ansprüchen, über den Vorstellungen der einzelnen Mitgliedstaaten zu stehen haben. Dies gilt besonders für die Diskussion um europäische Streitkräfte. Auch wenn die kommende Regierungskonferenz keine fundamentalen Vorgaben für die Errichtung einer europäischen Armee erarbeiten sollte, so bedeutet dies keineswegs, dass die Mitgliedstaaten sich dieses Themas grundsätzlich entledigen können.