Die Politik tut gut daran, sich beraten zu lassen
Artikel von Jürgen Turek
02.08.2001 · Handelsblatt
Aber wozu, so lautet die Frage, wenn Enquéte-Kommissionen oder andere Beratungsgremien schon im Parlament angesiedelt sind, dort, wo sich der Volkswille artikulieren soll? Hinzu kommt: Alles, aber auch wirklich alles werde bei Christiansen & Co. vorab lanciert, am Parlament vorbei, oder vieles werde im Hinterzimmer ausgekungelt, lange bevor es das Plenum und damit ein "ordentliches" und legitimiertes Verfahren erreicht. Eine neue Art der politischen Kommunikation, die Regeln der Mediendemokratie und Brüssel werden damit für viele zur Irritation der repräsentativen Demokratie.
Sind diese Bedenken gerechtfertigt? Zunächst: Eine wachsende Komplexität und zunehmende Geschwindigkeit des sozioökonomischen Wandels sind prägnante Merkmale unserer Zeit. Da gleicht vieles einer Reise ins Unbekannte und deshalb tut guter Rat Not. Man kann die Einbeziehung von gesellschaftlichen Gruppen und ausgewiesenen Experten beim besten Willen auch nicht pauschal als undemokratisch abqualifizieren. Die Notwendigkeit eines breiteren Dialogs hat viel mit Globalisierung und internationaler Vernetzung, und so mit Verunsicherungen und neuen Problemlagen zu tun, die ein neuartiges Spürgefühl für die Art des politischen Entscheidungsprozesses erfordern.
Auch Politikberatung ist hier stärker gefragt, denn Globalisierung und technologische Innovationen haben die Bedingungen der Demokratie verändert. Politik verliert die Fähigkeit zur Beeinflussung der Ereignisse, wenn ihre Lösungsstrukturen nicht mit der Internationalisierung der Problemstrukturen Schritt halten. Alleine deshalb steigt das Bedürfnis nach kompetenter Beratung in einem interdisziplinären Rahmen an. Der Staat alleine schafft vieles nicht mehr.
Das Konzept der "Zivilgesellschaft" erfordert darüber hinaus die Einbeziehung solcher Akteure, die von den Veränderungen stark betroffen sind und sich politisch stärker einmischen können und wollen. Es ist deshalb nur logisch und politisch legitim, diese Akteure nicht im Abseits stehen zu lassen, wenn sie seriöse und wichtige Interessen artikulieren, mögen diese im Einzelfall auch nur partiell sein. Ist dieser Prozeß transparent, sind die Ergebnisse der wechselseitigen Kommunikation gut und fließen sie nachvollziehbar in das parlamentarische Entscheidungsverfahren der Bundesrepublik ein, läßt sich das Bild von nicht legitimierten Beschlußfassungen nicht aufrecht erhalten.
Der Einfluß von Expertengremien und Räten ist, verfassungsrechtlich gesehen, auch nach wie vor relativ. Und das ist auch gut und im System der Gewaltenteilung in Deutschland so gewollt. Die Gesetzgebung des Bundes ist mit den Artikeln 70 bis 82 im Grundgesetz klar geregelt. Insofern passt die Mahnung von Bundespräsident Rau in seiner Berliner Rede, dass wir "unsere Verantwortung nicht delegieren können, nicht an die Wissenschaft, nicht an Kommissionen und nicht an Räte", verfassungsrechtlich ins Bild, und man muss die "Mahnfunktion", die er qua Amt auch gegenüber den eigenen Parteikollegen auszuüben berechtigt ist, hier als Momentum einer funktionierenden demokratischen Arbeitsteilung interpretieren und nicht als fürchterlichen Institutionenkonflikt dramatisieren.
Wenn Kanzler, Minister und Oppositionsführer über das Fernsehen politische Themen clever transportieren, sollte das Niemanden schrecken. Was wird denn im Gesetzgebungsverfahren dadurch deformiert? Der politische Meinungsbildungsprozess findet doch nach wie vor in den Gremien statt, die das Gesetzgebungsverfahren vorstrukturieren und die sich sowohl an der Sache als auch an der jeweiligen Koalitionsarythmetik und der Schlagkraft der Opposition sowie an politischen Bündnisoptionen orientieren. Wenn Parlamentarier hier beanstanden, dass Debatten woanders als im Plenum laufen, wirft das in erster Linie kein gutes Licht auf die Arbeitsweise des Parlaments.
Bleibt Europa. Die Delegation politischer Verantwortung an die Europäische Ebene ist seit den Römischen Verträgen explizit so gewollt. Auch mussten alle Verträge von Rom bis Amsterdam von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, so auch in Deutschland. Man mag Bananenverordnungen oder Euro-Paletten belächeln; das europäische Entscheidungssystem ist unter historischen Gesichtspunkten gesehen letztlich im Regelwerk der repräsentativen Demokratie entstanden und bezieht mit dem Europäischen Parlament eine demokratische Komponente explizit mit ein. Zwar sind dessen Befugnisse noch beschränkt, doch wurden dessen Rechte mit der Einheitlichen Europäischen Akte und den Verträgen von Maastricht und Amsterdam seitdem ständig ausgeweitet.
Zur politischen Legitimität eines politischen Systems gehört, dass Entscheidungen effektiv, transparent und demokratisch sind. Die Räte und Kommissionen stören da nicht, sofern ihr Wirken bekannt und nachvollziehbar ist und die dahinter stehenden Interessen in den Massenmedien für jedermann verständlich kommentierbar sind. Die Arbeit der Süßmuth-Kommission etwa ist enorm wertvoll, hat sie doch eine breite Debatte über das wichtige Thema der Zuwanderung initiiert. Der Nationale Ethikrat steht dem Bundeskanzleramt nicht exklusiv zur Verfügung, sondern soll auch auf Anfragen des Parlaments oder der Ressorts antworten. Alles in allem also Entwarnung. Das System der repräsentativen Demokratie ist nicht außer Kraft und die Medien werden dafür sorgen, dass Zuwanderung oder Gentechnologie in eine breitere Debatte einfließen, als dies das Parlament alleine durch Ausschußarbeit oder Plenumssitzungen erreichen könnte.