Gedenken zum Zwecke der inneren Einheit
Anmerkungen zu den Erinnerungsfeierlichkeiten zum 17.06.1953
12.06.2003 · Michael Weigl
© AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung
Die Szenerie wirkt: Mit Gewehren bewaffnete Soldaten der Volksarmee bahnen sich als winzige schwarze Gestalten in wehenden Mänteln ihren Weg hindurch zwischen Schutt und Sand; über ihnen - schwarz auf weiß, aufgemalt auf einer Häuserwand - die verstümmelte Losung der sozialistischen Propaganda: "Dein Ja zur Volks ... Friedliche Zukunft".
Es ist dies nur eines von rund 500 Fotos, die sich im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD ) der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Ereignissen des 17. Juni 1953 in der DDR finden lassen. Viele weitere könnten und werden in diesen Wochen beschrieben oder ausgestellt. Sie sind ein Mosaikstein der Veranschaulichung und Emotionalisierung dessen, was Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur, die gesamtdeutsche Bekanntmachung des Themas nennt. Mehr als 450 Veranstaltungen, zahlreiche Fernsehreportagen und Buchpublikationen, unzählige Zeitungsartikel und eine eigens zu diesem Zweck eingerichtete Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung erinnern derzeit an jene Tage, als das Volk der Deutschen Demokratischen Republik den Aufstand gegen die Mächtigen probte, ihre Hoffnungen jedoch von sowjetischen Panzer zermalmt wurden. Die Ost- wie Westdeutschland gleichermaßen - wenn auch in unterschiedlicher Intensität - erfassende Erinnerungsflut steht unter dem Leitgedanken, wie ihn Egon Bahr jüngst formuliert hat: "Nachdem wir nun die Einheit lange genug haben, können wir den 17. Juni 1953 als gesamtdeutsches Ereignis begreifen und sagen: Wir können stolz sein auf diesen Tag und das, was die Ostdeutschen gezeigt haben".
Doch sind Zweifel um die Aktualität des Ereignisses, wie sie bereits angemeldet wurden, erlaubt. Auch das Ergebnis einer repräsentativen Meinungsumfrage vom November 2000 steht so gar nicht im Einklang mit der bundesweiten Aufgeregtheit um den 50. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR. Auf die Frage, an welche Ereignisse der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre die Erinnerung wach gehalten werden sollte, entschieden sich nur ein Prozent der Deutschen für den 17. Juni 1953. Zumindest im scheinbaren Desinteresse aber ist weitgehend gesamtdeutsche Einigkeit festzustellen: Lediglich 0,7 Prozent der West- und 1,9 Prozent der Ostdeutschen votierten für ein fortgesetztes Gedenken an den Aufstand, womit das Ereignis auf dem vorletzten (Erhebungsgebiet Ost) bzw. letzten Platz (Erhebungsgebiet West) unter 14 vorgegeben Ereignissen zu den Schlusslichtern zählt. Die Frage drängt sich auf: Liegt der Zelebrierung des 50. Jahrestages des Volksaufstandes tatsächlich nur der scheinbar dringend erforderliche aufklärerische Impetus zugrunde, sich mutiger Männer und Frauen zu erinnern, die ihre Stimme erhoben haben "gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, gegen Spaltung und Teilung" (Johannes Rau)? Oder instrumentalisieren Staat und Öffentlichkeit nicht vielmehr die Geschichte, um einen neuen Mythos der wiedervereinigten deutschen Nation zu inszenieren?
Hinweise, die friedliche Revolution im Herbst 1989 habe vollendet, was mit dem Aufstand 36 Jahre zuvor seinen Anfang genommen habe, kommen den Strategen der Inneren Einheit nicht ungelegen. Der 17. Juni wird in dieser Perspektive praktisch zum Gründungsmythos des vereinten Deutschland stilisiert. Ein Mythos, der eine immerwährende Verbundenheit zwischen Ost und West in den Jahrzehnten der Teilung beschwört; der die Diskussion um die bundesdeutsche Politik der Westintegration unter Konrad Adenauer als Verrat am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes unter den Teppich kehrt; der den "realen Sozialismus" Ost-Berlins von der deutschen Geschichte subtrahiert, indem die Männer um Walther Ulbricht mittels Distanz schaffender Titulierungen wie "Politbüro" oder "SED" ihrer Staatszugehörigkeit beraubt, praktisch den "deutschen" Aufständischen entgegengestellt werden; der die derzeit ohnehin gebeutelten transatlantischen Beziehungen schont, indem die Ursache jahrzehntelanger deutscher Teilung auf die sowjetischen Panzer reduziert, der Kalte Krieg in seiner Gesamtheit aber ausgeblendet wird.
In der Deutung eines normativen Zusammenhangs zwischen dem 17. Juni 1953 und dem 9. November 1989 soll der Volksaufstand in der DDR fünfzig Jahre nach seinem Geschehen einen Beitrag dazu leisten, auch in den Köpfen der Bundesbürger ein gesamtdeutsches Geschichtsbewusstsein erwachsen zu lassen. Politik und Meinungsbildner reagieren damit auf die Defizitanalyse von Wissenschaftlern, wonach gerade im Geschichtsbewusstsein ein Graben zwischen Ost und West verläuft, der die Identität der Deutschen auch in Zukunft vielschichtig erscheinen lässt. Im Gegensatz zum Osten der Republik, in der die Wiedervereinigung zum Zentrum der historischen Selbstverortung avancierte, ist in Westdeutschland weiterhin der Nationalsozialismus Prägestempel der kollektiven Identität. Gerade der 17. Juni 1953 erscheint dagegen auf den ersten Blick geeignet, west- und ostdeutsche Geschichte miteinander zu versöhnen, indem an die bundesrepublikanische Tradition des "Tages der deutschen Einheit" angeknüpft und gleichzeitig der DDR-Vergangenheit und damit ostdeutschen Befindlichkeiten das Wort gegeben wird.
Die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens ist, soll die innere Einheit auch im Geschichtsbewusstsein Wirklichkeit werden, nicht zu bezweifeln. Das Reservoir gemeinsam erlebter, gleich gedeuteter und vereint erinnerter Geschichte ist auch nach mehr als einem Jahrzehnt Deutscher Einheit nur spärlich gefüllt. Erst die Jahre seit 1990 konnten mit Ereignissen wie dem 11. September 2001 gemeinsames Geschichtserleben stiften. Historische Marksteine aus der Zeit der Teilung sind hingegen ähnlich dem Beispiel 1968, das in Westdeutschland vornehmlich Erinnerungen an Studentenunruhen, in Ostdeutschland dagegen an den Prager Frühling hervorruft, in Ost und West mit gänzlich unterschiedlichen Erinnerungen und Werten aufgeladen.
Der 17. Juni 1953 macht diesbezüglich keine Ausnahme. In der DDR als von außen gesteuerter faschistischer Putsch gebrandmarkt und im Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung als Tag der Ohnmacht und Desillusion verfestigt, wurde der 17. Juni in der Bundesrepublik zwar rasch zum Feiertag erhoben, doch ebenso schnell in den Mühlen der Geschichtspolitik seiner ideellen Bedeutung beraubt . Angesichts der sich stetig verfestigenden und zur scheinbar unumgänglichen politischen Realität mutierenden Teilung Deutschlands verbanden die meisten Bundesbürger mit dem 17. Juni spätestens seit den 80er Jahren nur noch die Freude über einen freien Tag mit Freunden. Das in der Umfrage von 2000 zum Ausdruck gebrachte geringe Interesse, die Erinnerung an dieses Datum wach zu halten, überrascht daher wenig.
Als Geschichtsmythos des vereinten Deutschlands eignet sich der Volksaufstand in der DDR kaum. Weder die Erinnerungen noch die Werte, welche Ostdeutsche mit diesem Ereignis verbinden, sind kompatibel mit denen ihrer westdeutschen Mitbürger. Die 1990 gefällte Entscheidung, den 17. Juni als Feiertag der Bundesrepublik zugunsten des 3. Oktobers abzuschaffen, wird durch die jetzige Instrumentalisierung der Geschichte nicht revidierbar sein. Und dennoch ist der derzeit forcierten Geschichtspolitik schon jetzt ein Erfolg zu bescheinigen. Zwar werden nicht die Geschehnisse, welche sich vor 50 Jahren in den Straßen von Berlin, Halle, Magdeburg und anderen ostdeutschen Städten abspielten, dem gesamtdeutschen Geschichtsbewusstsein und damit der Identität des vereinten Deutschlands einverleibt. Sehr wohl aber die gemeinsam begangenen Erinnerungsleistungen des Jahres 2003.
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