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Zukunft denken

Diskussionspanel der Forschungsgruppe Zukunftsfragen mit Wolfgang Bonß und Franz-Theo Gottwald in München

Diskussionspanel zu den Themen "Transnationale Technologiegesellschaft", "Wissens- und Informationsgesellschaft" und "Risikogesellschaft" am 27.04.2004 im Centrum für angewandte Politikforschung

05.05.2004 · Forschungsgruppe Zukunftsfragen




Prof. Dr. Wolfgang Bonß, Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald und Prof. Dr. Werner Weidenfeld (v.l.n.r.)

"Zukunft zu denken" war immer wichtig. Angesichts eines schnelleren und komplexeren sozialen Wandels wird "Zukunft denken" aber essenzieller als zuvor: für Unternehmen, die verlässlich kalkulieren müssen, für Individuen, die ihre Erwerbsbiographien linear und konstant planen wollen, für staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die die grundlegenden Ziele von Wohlstand und Sicherheit, von sozialem Ausgleich und gesellschaftlicher Gerechtigkeit garantieren sollen.

Die sozio-ökonomische Lage verlangt Innovationen auf breiter Front. Insbesondere Quantensprünge bei technologischen Innovationen werten Information und Wissen in ihrer Bedeutung enorm auf. Grund genug für das Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P), am 27. April einen Workshop zu der Thematik in München durchzuführen, bei dem der Leiter der Forschungsgruppe Zukunftsfragen am C·A·P, Jürgen Turek, der Vorstand der Schweisfurth-Stiftung, Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald und der Münchner Soziologe Prof. Dr. Wolfgang Bonß unter Leitung von C·A·P-Direktor Prof. Dr. Werner Weidenfeld mit ca. 30 Teilnehmern diskutierten.

Die Erfahrungen der vergangenen Dekade zeigen hierbei nach dem Eröffnungsstatement von Jürgen Turek klar auf: Globalisierung, die zunehmende Zahl revolutionärer Basis- und Querschnittstechnologien und der demographische Wandel ändern das uns vertraute gesellschaftliche Beziehungs- und Regelungsgefüge dramatisch. Die Industriegesellschaft vergehe und eine neue, transnationale Technologiegesellschaft scheine am Horizont auf. Die transnationale Technologiegesellschaft, das sei das Etikett der Zukunftsgesellschaft. Die Konsequenzen: Das Normalarbeitsverhältnis stehe zur Disposition; Kapital und Arbeit wanderten zunehmend über nationale Grenzen hinaus; die Technikfolgenabschätzung habe heute ein anderes Gesicht, viele westliche Gesellschaften alterten und schrumpften zugleich. Daraus resultiert: Die fundamentalsten Regelungserfahrungen der vertrauten Industriegesellschaft stünden zur Disposition. Alles in allem lasse sich die neue Situation auf drei Grundbegriffe herunter brechen: größere Risiken, weniger Sicherheit, neue Chancen. Ein Befund, der nach neuartigen Einschätzungen und Regelsystemen fragen lässt.


Jürgen Turek und Dr. Peter Thiery

Wissen und Information stehen heute in fast unbegrenztem Maße zur Verfügung. Obwohl moderne Gesellschaften über eine enorme Wissensakkumulation verfügen, wenden sie es aber oft genug auf gesellschaftlicher Ebene nur unzureichend oder gar nicht an, wie Franz-Theo Gottwald zu Beginn seines Statements betonte. Menschliches und gesellschaftliches Handeln sei nach wie vor wider besseren Wissens und in paradoxer Weise oft eher eigenartig widersprüchlich und emotional. Mit Blick auf gesellschaftliche Ordnung, Regulierung und Steuerung, konkurrieren auch nicht Wissenssysteme in der Gesellschaft, sondern Glaubenssysteme. Damit stelle sich die Frage, wer trotz des enormen technologischen und wissenschaftlichen Lösungspotenzials in Zukunft die Macht habe, über das Kultursystem seine Themen auf der Agenda zu platzieren und wer sich schließlich durchsetze. Es sei unrealistisch zu erwarten, dass Wissen und Rationalität zu den wesentlichen Treibern und Prägestempeln moderner Gesellschaften würden, sondern wahrscheinlich, dass die gewollte Lebenswelt von Menschen und Gruppen sowie das Dringen darauf das Antlitz der modernen Gesellschaften präge.

Ein Befund, den Wolfgang Bonß komplettierte. Er wies darauf hin, dass sich in der modernen Gesellschaft eine Zunahme gesellschaftlicher Risiken ergeben habe, die, trotz der bestehenden Wissensbestände, zu erheblich gewachsenen Unsicherheiten und Orientierungsverlusten führe. Im Gegensatz zu früher, wo der Umgang mit Risiken gelassener gewesen sei, sei insbesondere diese Unsicherheit ein prägendes Merkmal unserer Zeit. In den 60er und 70er Jahren herrschte die Auffassung vor, dass mit Wissenschaft, Prognostik und Technologie alles machbar sei. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl sei das technologisch-wissenschaftliche Paradigma der modernen Gesellschaft aber implodiert. Tschernobyl avancierte so zum Symbol vom Autoritätsverlust der Wissenschaft und der alten Risikoeinschätzung. Der 11. September 2001 habe den wissenschaftlichen Autoritätsverlust schließlich durch einen sozio-politischen Autoritätsverlust ergänzt. Die gesellschaftlichen Akteure und die Politik, so der Befund, hätten die Risikoeinschätzung des Terrorismus nicht oder falsch vorgenommen, so dass heute ein größeres Risikopotenzial in allen Bereichen bei gleichzeitigen Ohnmachts- und Angstgefühlen festzustellen sei.

Referenten und Auditorium fassten bei diesem Widerspruch von Wissen, Unsicherheit und Ohnmacht nach. Wer gebe in Zukunft denn Zuversicht und Vertrauen, wenn einst bewährten Regelsysteme und normative Koordinatensysteme in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nicht eindeutige Antworten auf Probleme liefern könnten? Welche Wahrnehmungen seien eigentlich in einer gleichzeitig durch Wissen und Orientierungslosigkeit geprägten Gesellschaftswelt richtig, und wer gebe die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit? Eine Pluralisierung vagabundierender Deutungen des gegenwärtigen und zukünftigen Miteinanders erleichtere die Lage nicht und werde durch das leise Verschwinden der Politik in beunruhigender Weise sekundiert. Das Resultat: Ein Vakuum der persönlichen wie sozialen Selbstvergewisserung. Hier liege eine der wesentlichen Herausforderungen der Zukunftsgesellschaft. Denn es werde deutlich, dass wachsende Deutungsschwächen in modernen Gesellschaften in einen Kampf um die Deutungshoheit gesellschaftlicher Realität einmünden werden. Nichts anderes als die Identität der Zukunftsgesellschaft stehe somit auf dem Spiel.


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