Deutsche Europapolitik
Publikation der Reihe "Strategien für Europa" mit Vorschlägen zur Effektivierung
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01.06.1998 · Bertelsmann Forschungsgruppe Politik
Die deutsche Europapolitik befindet sich in einem Rollenkonflikt: Einerseits strebt die Bundesrepublik auf europäischer Ebene die Reform der Europäischen Union, die Währungsunion und die Osterweiterung an, andererseits besteht heute weniger Bestimmtheit in der Umsetzung von Integrationsprojekten in Deutschland. Während im europäischen Rahmen wichtige Weichenstellungen erfolgen, scheint eine zunehmende Zahl von nationalen Entscheidungsträgern weiteren Integrationsschritten zögerlich gegenüberzustehen. Bei der Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft nach Osten, in der Finanz- und Haushaltspolitik im Vorfeld der Währungsunion, bei der Umsetzung der Binnenmarktregelungen, bezüglich der Stärkung der EU-Kompetenzen sowie bei der Gewährung von Subventionen weichen europapolitische Rhetorik und tatsächliches Handeln immer häufiger voneinander ab. Die Entscheidungsprozesse der deutschen Europapolitik sind zu stark sektoralisiert und durch ein "Primat der Verfahren" zu inflexibel gestaltet.
Eine nach Amsterdam institutionell kaum reformierte EU bedarf um so mehr der politischen Führung integrationswilliger Nationen. Deutschland hat konkrete Gestaltungsinteressen in der EU und muß deshalb eine Führungsrolle suchen. Die deutsche Europapolitik sollte auf diese Aufgabe hin das Mischungsverhältnis von Integrationsstrategie, der Vorschläge zur Fortentwicklung der europäischen Verträge und der operativ-taktischen Handlungen neu bestimmen. Differenzierte Integrationsformen auf EU-Ebene sowie eine an Kriterien der Effizienz und Legitimität orientierte Optimierung der Europapolitik im Binnensystem der Bundesrepublik müssen Hand in Hand gehen, damit deutsche Präferenzen klarer sichtbar werden. Mehr innenpolitische Reflexion über die Konsequenzen europäischer Strategien, die bewußte Förderung öffentlicher Debatten zur Stärkung der Legitimität der deutschen Europapolitik und ein effizient koordinierter Beratungs- und Entscheidungsprozeß der exekutiven und legislativen Akteure sind erforderlich.
Kernpunkt der institutionellen Umsetzung dieser Ziele ist die Auflösung der Europa-Doppelzuständigkeit von Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium. Die Bundesregierung sollte ihre europapolitischen Organisationsstrukturen durch die Etablierung eines im Kanzleramt ansässigen "Staatsministers für die Europäische Integration" neu zuschneiden, der mit seinem Stab den Gesamtrahmen operativer europapolitischer Beratung und Vertretung koordiniert. Die Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes für die allgemeine integrationspolitische Fortentwicklung der Europäischen Union und die strategische Kompetenz des Bundeskanzlers würde damit nützlich ergänzt. Der Staatsminister sollte dem Staatssekretärausschuß für Europafragen vorsitzen, der mit Hilfe von "Task Forces" die Integrationspolitik der Bundesregierung aufgabenorientiert strafft, flexibler abstimmt und frühzeitig auf europäische Prioritäten ausrichtet. Ein juristischer und ein haushaltsrechtlicher Dienst unterstützen dabei die Arbeit des Staatsministers und des Ausschusses der Staatssekretäre. Dem Staatsminister sollte auch die "Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union" in Brüssel direkt zugeordnet werden. Auf ministerieller Ebene sind ergänzend flexible und flache Kommunikationswege und projektbezogene Führungsmechanismen zu etablieren. Die europapolitisch tätigen Beamten sollten zudem in Praxis und Wissenschaft fortgebildet werden, externe Experten sind auf Zeit in die Europaarbeit der Bundesregierung einzubinden.
Der Bundestag sollte in der Europapolitik in seiner strategischen, konsultativen und kommunikativen Rolle aufgewertet werden. Dazu würde ein mit der Exekutive abgestimmtes, detailliertes legislatives Integrationsprogramm beitragen, das für die Bundesregierung, die Fraktionen und Fachausschüsse des Bundestages, die Interessengruppen sowie die Öffentlichkeit als Orientierungsmarke und Diskussionsgrundlage dient. Ferner sollte durch eine effiziente Verfahrenskooperation zwischen EU-Ausschuß und den Fachausschüssen des Bundestages das Reaktionsvermögen des Bundestages auf Vorlagen aus Brüssel verbessert werden. Die Berufung einer "Enquete-Kommission Europäische Union" würde dazu beitragen, sowohl der fachlichen als auch der öffentlichen Diskussion zu Europathemen neue Impulse zu geben.
Schließlich ist die europapolitische Einflußnahme der Länder auf regionale und nachbarschaftliche sowie struktur- und wirtschaftspolitische Aspekte zu konzentrieren. Das EU-Recht muß zügig und gewissenhaft von den Ländern umgesetzt werden. Auf den weiteren Ausbau der verfahrensmäßigen Länderrechte in der Europapolitik sollte verzichtet werden. Ergänzend sollte aber die Beteiligung der Länder an der Meinungs- und Willensbildung des Bundes zu allen innenpolitisch relevanten Europa-Themen auf flexible und unbürokratische Weise auf Ressortebene und in den Koordinationsgremien der Bundesregierung und des Bundestages gestärkt werden. Diese Vorgehensweise ersetzt zwar nicht die notwendige umfassende föderale Reform auf nationaler Ebene, die eine Koordinierung der Europapolitik zwischen Bund und Ländern deutlich erleichtern würde, sie kann jedoch Fehlentwicklungen im Bund-Länder-Verhältnis ausgleichen.
Die europäische Integration bleibt als Handlungsebene zentral für die deutsche Politik - gerade deswegen wird die bewußte Wahrnehmung politischer Orientierung und Führung unerläßlich. Die europäischen Rahmenbedingungen für eine Führungsrolle der deutschen Europapolitik erscheinen günstig: Größe, Ressourcen und Lage machen Deutschland zu einem Schlüsselstaat der Europäischen Union. Deutschland muß in Europa mit einer Stimme sprechen können. Führung zu übernehmen bedeutet zudem Mehrarbeit, die ohne entsprechende personelle und institutionelle Ressourcen nicht möglich ist. Die deutsche Europapolitik braucht Managementkapazität, konzeptionellen Elan und einen kohärenten operativen Apparat.
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