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Telemedizin im Spannungsfeld von Innovation und Politik

Von Werner Weidenfeld und Jürgen Turek

10.05.2009 · AFH Allicance 03/2009



Märkte, Wissenschaft und Technologie treiben die Welt voran. Stärker als im 20. Jahrhundert, das sehr stark von zwei Weltkriegen und der nachfolgenden Bipolarität des kapitalistischen und sozialistischen Systems überschattet war, wird das 21. Jahrhundert durch die Macht und Faszination der Technologie und ihren weltweit ungebremsten Einsatz geprägt. Technologie ist der Transmissionsriemen zwischen Wissenschaft und Markt, wobei der Markt selbst wissenschaftlich-technische Erkenntnisse massenhaft in die Gesellschaft bringt. Insofern ist Technologie nach dem Schweizer Wissenschaftler Dieter Ruloff zum Treibsatz sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels geworden, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Innovation von Technologie und ihre globale Distribution öffnen das Fenster, das uns zeigt, wie Zukunft entsteht. Innovationen sind Neuerungen.  Sie veranschaulichen die Kraft des menschlichen Intellekts, im Rahmen wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse und Prozesse etwas Neues zu schaffen. Sie bedeuten, bekannte Pfade zu verlassen, neue Ideen zu entwickeln, durchaus auch, etwas Anderes anders zu machen. Sie entstehen durch Wissen, Denken und Handeln. Innovationen sind mehr als nur Erfindungen, oder technologische Verbesserungen. Sie repräsentieren eine Wertschöpfungskette, mithin das Wollen, von einer Idee über eine Erfindung und einen Test ihrer Relevanz bis hin zur konkreten materiellen oder immateriellen Nutzung, erfolgreich etwas Neues zu implementieren. In der Ökonomie bringen sie neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt, erhöhen die Produktivität und schaffen neue oder andere Arbeitsplätze. Quantitativ wie qualitativ fundamental sind sie im Rahmen ihrer industriellen Erzeugung für die Performance eines Wirtschaftsraumes. Länder, Regionen oder Kontinente entscheiden mittels der Innovationskraft ihrer Unternehmen und ihrer Ordnungspolitik über den Grad ihrer Wettbewerbsfähigkeit und Prosperität. Politik ist eine der entscheidenden Voraussetzungen, die Innovationen erst ermöglichen. Gleichzeitig fundieren Innovationen in der Politik die wirtschaftliche Performance selbst. Es geht um die Ausformung und Qualität der Sozial- und Bildungssysteme sowie der Infrastruktur; und es geht im Mehrebenensystem der EU um die Verteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission selbst. Innovation ist somit ein System, dass in Wissenschaft und Technik ebenso wie in Politik und Gesellschaft Modernität und Fortschritt generiert.

Eine weitere Verbindung zur sprunghaft wachsenden Bedeutung der Gesundheitstelematik ist: in der Marktwirtschaft treten nicht nur kurze und mittlere Wirtschaftsschwankungen auf, sondern auch lange Zyklen, mit einer Periode von 40 bis 60 Jahren. Sie beruhen auf Basisinnovationen, welche die Weltwirtschaft in einen kräftigen Wachstumsprozess führen. Sie gelten als Auslöser ganzer Wirtschaftszyklen, die man als Theorie nach dem russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff auch Kondratieff-Zyklen nennt. Die Dampfmaschine, die Elektrotechnik, die Chemie, die Informations- und Kommunikationstechnologie sind Beispiele solcher Basisinnovationen, die man bisher in fünf Kondratieff-Zyklen eingeteilt hat. Sie haben das Tempo und die Richtung des Innovationsprozesses über mehrere Jahrzehnte weltweit bestimmt. Mit bahnbrechenden Entwicklungen und Innovationen in der modernen Medizin steht die Weltwirtschaft nach den oben genannten Basisinnovationen mutmaßlich wieder am Beginn eines neuen Zyklus, dem sechsten Kondratieff. Der Megamarkt des nächsten Kondratieff wird dabei nach dem Wirtschaftswissenschaftler Leo Nefiodow der Gesundheitssektor sein. Gesundheit wird hierbei ganzheitlich verstanden: körperlich, seelisch geistig, ökologisch und sozial. Informationstechnologie und Biotechnologie werden ebenso wie neue medizintechnologische Innovationen und Verfahren eine herausragende Rolle spielen. Gerade die Informations- und Kommunikationstechnologien sind hierbei für die Erschließung und Weiterentwicklung der Gesundheitsmärkte unverzichtbar. Gesundheitstelematik und Telemedizin avancieren so zum Zukunftsgut.

Telemedizin ist eine sinnvolle Ergänzung klassischer Versorgungsmethoden. Angewendet insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie Herzinsuffizienz oder akuten Problemen wie Herzinfarkt steht sie für eine innovative Behandlungsform, die elektronische Mittel für Vorsorge und Behandlung nutzt. In einem telemedizinischen Zentrum mit elektronischer Patientenakte kann so der Kreislauf von ärztlicher Diagnostik und Therapiekontrolle mit einem Fernmonitoring durch die elektronische Übertragung  etwa von kardiologischen Vitalparametern medizinisch besser und kosteneffizienter organisiert werden. Ihr Potenzial und weit reichende Erfahrungen in anderen Ländern lassen erkennen, dass sie sich auch in Deutschland langfristig durchsetzen wird. In Israel etwa ist sie flächendeckend im Einsatz. Israel ist Benchmark, da das Land insgesamt ein dicht und kohärent organisiertes Gesundheitssystem mit optimierten Behandlungszyklen und Versorgungsmaßnahmen hat, das vergesellschaftete und private Versorgungskomponenten verknüpft und weltweit hinsichtlich Technik und Eigenverantwortung als besonders innovativ gilt. Hierbei fließen rund 11 Milliarden US-Dollar jährlich in das nationale Gesundheitssystem. Das sind etwa 8 Prozent des Bruttosozialprodukts. Diese Mittel unterhalten 4 Krankenkassen, 29 Hospitäler und 21 psychiatrische Kliniken mit insgesamt 14.200 Betten. Das als hoch funktionsfähige geltende System schließt öffentlich-staatliche und private Einrichtungen ein; ein Drittel der Finanzierung ist privat. Private Finanzierungsanteile sind grundsätzlich beachtlich, gelten sie doch als wichtige Antreiber von Innovationen im Gesundheitssystem. Die Wirksamkeit der Gesundheitstelematik wird mittlerweile durch zahlreiche Studien belegt. Sie ermöglicht es, Fortschritte in der Medizintechnologie mit ökonomischer Effizienzsteigerung zu verbinden. So bietet etwa das Telemonitoring die Möglichkeit, Rekonvaleszenten früher aus der stationären Behandlung zu entlassen und im privaten Umfeld weiter zu betreuen. Aus der Sicht der Beteiligten kann die medizinische Nachversorgung somit für die Patienten angenehmer und für die Akteure im Gesundheitssystem billiger gestaltet werden.

Angesichts der Zunahme des Lebensalters  und der Anzahl chronischer Erkrankungen werden medizinische wie gesundheitsökonomische Aspekte der Versorgung immer wichtiger. Alleine in Deutschland leben 1,6 Millionen Menschen mit Herzinsuffizienz und über 5 Millionen Menschen mit koronarer Herzkrankheit, die es heute und in Zukunft gut und ökonomisch vertretbar zu versorgen gilt. Weitere chronische Krankheiten wie Diabetes oder periphere Verschlusskrankheiten kommen zu diesem Potenzial hinzu. Die Gesundheitstelematik zeigt hierfür praktikable Wege und überraschend gute Lösungen auf. Ein flächendeckender Einsatz der Technologie hat jedoch noch Hürden zu überwinden. Standards und einheitliche Verfahren gehören dazu. Der medizinische Nutzen der Telemedizin ist durch zahlreiche Studien belegt und sie wird international erfolgreich eingesetzt. Die USA stehen hier neben Israel als gutes Beispiel: Auch dort ist ein starkes Wachstum des Gesundheitsmarktes zu beobachten und Telemedizin gilt hier als probates Mittel, um die Kosteneffizienz der Behandlung signifikant zu steigern. Untersuchungen in Amerika haben gezeigt, dass der Einsatz der Gesundheitstelematik  unvorhergesehene Notfalleinweisungen verringern, Liegezeiten in Hospitälern einschränken und so die Kosteneffizienz steigern kann. Telemedizin ist darüber hinaus ein Mittel, um die strategischen Ziele des „eHealth Action Plan“ für alle Bürger der europäischen Union zu erreichen. Diese von der Europäischen Kommission formulierten Ziele sind besserer Zugang, bessere Qualität und höhere Effizienz hinsichtlich der Gesundheitsdienste.

Der internationale Vergleich zeigt das enorme Potenzial der Telemedizin auf. Das in Europa und Deutschland gewollte Maß an medizinischer Qualitätssteigerung und Kosteneffizienz rückt mit ihrem Einsatz in große Nähe. Mit Blick auf Deutschland aber gilt: Eine Innovation gesundheitstelematischer Instrumente und Prozesse hat die besonderen Eigenheiten des deutschen Gesundheitssystems zu berücksichtigen, obwohl eHealth innerhalb der angestrebten integrierten Versorgung und Managed Care Programmen als eine wesentliche Komponente der Optimierung in der Gesundheitsversorgung gilt. Es bleiben konkrete Anforderungen, die in Deutschland technologisch und politisch erfüllt werden müssen:

  • Kompatibilität der technischen Systeme;
  • Zwingende datenschutzrechtliche Aspekte;
  • Überführbarkeit von regionalen Projekten in den bundesweiten Regelbetrieb;
  • Einbindung in die Prävention;
  • Wende von der Nachsorge zum Risikomanagement.

Hierbei spielen die Einbindung der Ärzte, die stärkere Eigenverantwortung der Patienten und die adäquaten rechtlichen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle. In Zukunft wird der "Public-Private-Mix" bei einer insgesamt weiter wachsenden Gesundheitssparte auch in Deutschland deshalb immer wichtiger. Es gilt die Telemedizin nun energisch einzusetzen und beim Datenschutz sorgfältig aber auch pragmatisch zu handeln. In diesem Sinne sind mehr internationale Vergleichsstudien notwendig um Best Practices angemessen studieren zu können.

Gesundheitstelematik und Telemedizin sind Beispiel einer innovativen Spitzentechnologie. Hinsichtlich ihrer Bedeutung im Gesundheitssektor erschließt sie die Möglichkeit, Fortschritt in der Medizintechnologie mit ökonomischen Fortschritten und politischen Zielsetzungen zu verbinden. Sie ermöglicht, medizinischen Fortschritt nicht nur an der Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit auszurichten, sondern auch, die Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung im Auge zu behalten. Voraussetzung dazu sind Deregulierung des Gesundheitswesens im Nationalstaat und in Europa sowie die Schaffung von Marktstrukturen. Der rudimentäre Markt lässt sich als zentrales Hemmnis für technologische Innovationen und Kosteneffizienz der Gesundheitsversorgung identifizieren. Einen Anstoß zur Marktöffnung und für Innovationsprozesse könnte ein Bericht nach dem Vorbild des Cecchini-Reports leisten. Er müsste einmal die Kosten der Nicht-Öffnung des Gesundheitssektors für die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung, die Innovationskraft in Europa sowie die gesamtwirtschaftlichen Effekte evaluieren. Insgesamt gilt es zudem, den Kulturprozess telemedizinischer  Innovation im öffentlichen Raum zu begleiten und den kommunikativen  Herausforderungen im Gesundheitssektor und bei der Einführung der  Telemedizin produktiv zu begegnen. Die Debatte um die medizinische  Versorgung sollte geöffnet werden, so dass nicht nur die Argumentationsfigur der  Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit des medizinischen Fortschritts thematisiert wird, sondern dass die Potentiale und Chancen für die Innovation und die gesamtwirtschaftlichen Effekte hervorgehoben werden. Die Diskussionen im Gesundheitswesen müssen in den größeren Kontext einer Debatte um Zukunft, Fortschritt und Wachstum eingebettet sein.


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