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2. Geschichte

2.2. Die türkische Republik unter Mustafa Kemal

Nach Kriegsende waren die osmanischen Truppen noch in ganz Anatolien verteilt und mussten zusammengezogen und entwaffnet werden. Dafür entsandten die Engländer den jungen türkischen General Mustafa Kemal. Doch anstatt den britischen Auftrag zu erfüllen, formierte Mustafa Kemal den nationalen Widerstand gegen die Besatzer und verbündete sich mit einer Vielzahl Einflussreicher und Mächtiger Anatoliens zum „Verein zur Verteidigung der Rechtsansprüche Anatoliens“. Im „Nationalpakt“ verkündete der Verein die Souveränität der anatolischen Resttürkei. Als die Türkische Nationalversammlung, die der Sultan zuvor aufgelöst hatte, auf Drängen Kemals wieder zusammengerufen wurde, sprach sich die Mehrheit der Abgeordneten, die sich aus den Jungtürken zusammensetzte, ebenfalls für den „Nationalpakt“ aus. Die Jungtürken bildeten eine Bewegung, die bereits seit 1876 auf liberale und konstitutionelle Reformen zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungen des Osmanischen Reiches drängte und damit den Vorstellungen Mustafa Kemals entsprach.


Mustafa Kemal in den 20er Jahren. Foto: www.kultur.gov.tr

Wegen der Bedrohung, die das jungtürkisch geprägte Parlament aufgrund seiner Sympathien mit der Unabhängigkeitsbewegung Mustafa Kemals darstellte, wurden einzelne Abgeordneten von den Militärs der Besatzer verfolgt, bis sich das Parlament endgültig auflöste. Die Jungtürken des alten Parlaments schlossen sich daraufhin Mustafa Kemal an, der seinerseits in Ankara ein neues Parlament einberief. Dieses trat am 23. April 1920 zusammen und ernannte Mustafa Kemal am 3. März 1920 zum Chef der neuen Nationalregierung. Kurz darauf, im Juni 1920, erkannte die Sowjetunion unter Lenin die neue anatolische Nationalregierung an.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Soldaten der türkischen Unabhängigkeitsbewegung bereits die französischen, italienischen und armenischen Besatzer zurückgedrängt. Auch die griechischen Truppen konnten mit militärischer Hilfe der Sowjetunion 1922 besiegt werden. Diese von Griechenland als „Kleinasiatische Katastrophe“ empfundenen Ereignisse sind eine der Hauptursachen für die immer noch auftretenden Schwierigkeiten zwischen der türkischen und der griwchischen Bevölkerung.

Am 24. Juli 1923 unterzeichnen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und die neue türkische Nationalregierung schließlich den Vertrag von Lausanne und erkannten damit die neu gegründete Republik an. Im darauf folgenden Monat wurde die Partei Mustafa Kemals gegründet, die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), in der sich viele Mitglieder der Jungtürken wieder fanden. Am 29. Oktober 1923 rief Mustafa Kemal schließlich die türkische Republik aus und wurde zum ersten türkische Staatspräsidenten ernannt, der er bis zu seinem Tode blieb.

Die türkische Republik legitimierte sich selbst mit dem Recht einer jeden Nation auf einen unabhängigen Staat, das Credo vieler Nationalstaaten dieser Zeit. Die nationale Integrität, die die Unabhängigkeitsbewegung suggerierte, entsprach jedoch nicht der Realität. Aus der Not der Besatzung hatten sich zwei völlig unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu einer Front zusammengeschlossen. Auf der einen Seite standen die aufgeklärten, europäisch erzogenen Soldaten unter Mustafa Kemal, die der Elite des Osmanischen Reiches entstammten, während sich auf der anderen Seite die Mitglieder der traditionellen, religiös geprägten Bevölkerung Anatoliens formierten, größtenteils Bauern und Hirten.

Die Vorstellungen und die Staatsideologie Kemals von einer westlich geprägten Gesellschaft und eines laizistischen Staates ohne den Islam als Staatsreligion konnten große Teile der anatolischen Bevölkerung nicht nachvollziehen. Schnell erwuchs eine Opposition in der Bevölkerung, die sich zum Beispiel in der DTP, der „Republikanischen Fortschrittspartei“, formierte. Doch Mustafa Kemal zeigte Härte bei der Durchsetzung seiner Reformen und ging gegen Oppositionelle und Gegner konsequent vor.

Eine der ersten Reformen war die Abschaffung des Kalifats (1923), der bis dahin geltenden Regierungsform, die das weltliche und religiöse Oberhaupt der Muslime in einer Person, dem Kalifen, vereinte. Weitere Schritte zur Zurückdrängung des Islams waren die Schließung der Medresen, der religiösen Schulen in der Türkei, und die Abschaffung des „Ministeriums für religiöses Recht und fromme Stiftung“.

Um gegen die anschwellenden Aufstände im ganze Land vorgehen zu können, wurde das „Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe“ (1925) erlassen, mit Hilfe dessen in den darauf folgenden Jahren der Reformkurs Mustafa Kemals durchgesetzt wurde. Zudem wurden in zahlreichen Städten und Provinzen Sondergerichtshöfe errichtet, die gegen Aufständische und Oppositionelle Strafverfahren führten, Verurteilungen aussprachen und nicht selten Todesurteile verhängten. Ebenfalls 1925 erließ das Parlament ein generelles Parteiverbot, das alle Oppositionsparteien bis auf Kemals CHP ausschaltete und die ersten Gewerkschaften verbot.

Doch auch optisch sollte sich die türkische Gesellschaft nach den Wünschen Mustafa Kemals moderner und westlicher zeigen. Die orientalische Kopfdeckung, der Fez, wurde verboten und anstatt dessen der europäische, christlich anmutende Krempenhut verordnet (1925). Ferner wurden die Logen der islamischen Orden verboten. Im Jahr 1926 wurde das Zivilrecht der Schweiz übernommen, die Polygamie und religiöse Eheschließungen abgeschafft, im Jahr 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. Im gleichen Jahr erfolgte die Umstellung von arabischer Schrift auf das neue türkische Alphabet, ab 1932 musste der Gebetsruf, anders als in allen anderen arabischen Ländern, in Türkisch erfolgen.

Im Jahr 1934 erhielten die Frauen das passive und aktive Wahlrecht und wurden den Männern gleichgestellt. Im gleichen Jahr verlieh das Parlament Mustafa Kemal den Titel Atatürk, zum „Vater aller Türken“, ein Name, der bis heute als Synonym für seinen Person gilt und Kemal zur Ikone der Türkei stilisierte. Denn obwohl die Reformen Atatürks anfangs gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgeführt wurden, haben diese letztlich das heutige Gesicht der Türkei geprägt und das türkische Nationalbewusstsein tief beeinflusst.

Am 10. November 1938 starb Mustafa Kemal Atatürk. Sein Vermächtnis, der Kemalismus,  und seine sechs Pfeiler – Nationalismus, Republikanismus, Revolutionismus beziehungsweise Reformismus, Volkswohl, Etatismus und Laizismus – sind bis heute in der türkischen Verfassung festgeschrieben.

Die Türkei nach der Ära Atatürk >