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„Das Ende des frei schwebenden Euro“

Mit Statements von Prof. Dr. Werner Weidenfeld

29.01.2011 · Die Presse



Deutschland ist plötzlich wieder treibende Kraft für mehr zentrale Macht in der EU. Von Steuern über Löhnen bis hin zum Pensionsalter soll vieles koordiniert werden.

Wien. Die deutsche Bundeskanzlerin stand lange auf der Bremse. Angela Merkel zögerte bei der Hilfe für Griechenland, bis diese kaum noch finanzierbar war. Sie zögerte bei Euroanleihen und bei der Ausweitung des Euro-Rettungsschirms. Ihr Credo hieß lange nur „sparen, sparen, sparen“. Doch nun will sie mehr, will den großen Wurf: nicht nur einen permanenten Rettungsfonds, gemeinsame Insolvenzregeln, sondern auch eine starke wirtschaftspolitische Koordinierung der Eurozone. Sie bricht Tabus, tritt plötzlich für eine gemeinsame Steuer- und Sozialpolitik ein. Die Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst soll besser koordiniert werden. Kein Land soll so wie einst Spanien zu stark in einen labilen Sektor (Immobilien) investieren. Die Experten der deutschen Regierung bereiten den größten Eingriff in nationale Wirtschaftskompetenzen vor, den die Europäische Union seit der Einführung des Binnenmarkts erlebt hat. Warum?

Der ehemalige Berater von Helmut Kohl, Europaexperte Professor Werner Weidenfeld vom Centrum für angewandte Politikforschung in München, zeigt sich im Gespräch mit der „Presse“ überzeugt, dass Merkel gar nichts anderes übrig bleibt. „Vor zwei Jahren hat sie noch völlig anders geklungen.“ Jetzt sei auch nach Berlin „gesickert“, dass der Euro politisch eingerahmt werden müsse. Um die innere Stabilität und äußere Wettbewerbsfähigkeit des Euroraums abzusichern, geht laut Weidenfeld kein Weg an einem nächsten großen Integrationsschritt vorbei. „Das wäre das Ende der frei schwebenden Währung.“

Schuldenbremse für alle

Berlin will eine Konstruktion, die schon im Vorfeld verhindert, dass es zu Fehlentwicklungen wie in Griechenland oder Irland kommt. Ein erster Schritt ist bereits vollzogen. Die Haushaltspolitik wird besser koordiniert. Erstmals müssen die EU-Mitgliedstaaten vorab ihre Budgetpläne vorlegen. Sie werden gemeinsam in Brüssel kontrolliert. Nun verlangt Berlin aber auch, dass sich alle Euroteilnehmer zu einer gesetzlichen Schuldenbremse verpflichten, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen koordiniert werden. Ja selbst eine abgesprochene Erhöhung des Pensionseintrittsalters ist im Gespräch.

Weidenfeld erinnert daran, dass schon in der Gründungsphase der Währungsunion eine politische Union im Raum stand. Treibende Kraft war Bundeskanzler Helmut Kohl. Doch die Idee versandete. So lange der Euro in einer Schönwetterperiode existierte, wurde keine Notwendigkeit mehr gesehen, neben dem Stabilitätspakt dieses zweite Fundament zu errichten.

Einzig aus Frankreich kamen regelmäßig Forderungen nach einem wirtschaftspolitischen Überbau. 2008 drängte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy vehement auf die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung. Er verwies auf die unkoordinierten Garantien für Banken, bei denen sich die Mitgliedstaaten gegenseitig in absurde Höhen lizitiert hatten. Irlands Regierung verpflichtete sich damals zu einer unverantwortlich hohen Haftung von 400 Mrd. Euro – doppelt so hoch wie die jährliche Wirtschaftsleistung des Landes.

Aber Deutschland hielt den Forderungen aus Paris Einwände entgegen. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle lehnte das Projekt noch Ende vergangenen Jahres klar ab. Die Regierung in Berlin fürchtete eine Wirtschaftsregierung nach französischem Muster, das Ende eines internen Wettbewerbs in der Eurozone. Während Merkel heute einen harten gemeinsamen Stabilitätskurs und eine Erhöhung der gemeinsamen Wettbewerbsfähigkeit im Auge hat, ging es Paris von Beginn an um mehr Protektionismus für die europäische und eigene Wirtschaft. Das sei der Grund gewesen, warum Merkel so lange gezögert habe, sagt Weidenfeld. „Dieses Modell wird in Berlin klar abgelehnt.“ Jetzt entwickelt Deutschland sein eigenes.


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