C·A·P Home > Aktuell > Pressespiegel > 2006 > Die Rolle der EU im Nahen Osten

Nachdrücklich diplomatisch

Über die Rolle der EU im Nahen Osten - Ein Artikel von Felix Neugart

Die EU kann keine Alternative zum US-Sicherheitsschirm im Nahen Osten anbieten; sie könnte jedoch durch ihre guten Beziehungen zu allen relevanten Akteuren eine ergänzende Rolle spielen. Die europäische Präsenz in der Region sollte auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene ausgebaut werden.

18.09.2006 · Frankfurter Rundschau



Nach Jahrzehnten weitgehender Stagnation im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich ist der Nahe Osten heute eine Region im Wandel. Vor diesem Hintergrund sind (1) die Zukunft des Libanon, (2) der Sieg der Hamas und der einseitige Rückzug Israels, (3) die Stabilisierung des Irak, (4) das iranische Nuklearprogramm, (5) der Aufbau eines Sicherheitssystems in der Golfregion und (6) die Unterstützung für Demokratisierung in der Region die wichtigsten Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft im Allgemeinen und die Europäische Union im Besonderen.

Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah hat gezeigt, dass eine militärische Lösung der israelisch-libanesischen Problematik nicht ausreichend ist. Israel hat es nicht vermocht, sein Abschreckungspotenzial wiederherzustellen. Die ungeminderte Fähigkeit der Hisbollah, Raketen tief in den Norden Israels abzuschießen, kann problemlos in einen politischen Sieg umgemünzt werden. Da die Entwaffnung der Hisbollah eine sehr komplexe Aufgabe ist, wird die erweiterte Unifil-Peacekeeping-Mission in den Kontext des breiteren inner-libanesischen Versöhnungsprozesses eingebettet werden müssen. Die Blauhelme sollten durch eine politische Rolle für das Quartett der internationalen Vermittler ergänzt werden. Es ist unabdinglich, Syrien mit einzubeziehen, das immer noch über erhebliches Störpotenzial verfügt, wenn es seine Interessen verletzt sieht. Nur ein langfristiger Ansatz, der sowohl die innenpolitischen Realitäten des Libanon als auch das weitere regionale Umfeld mit einbezieht, kann Erfolg haben.

Der Wahlsieg der Hamas hat eine neue Ära der palästinensischen Politik eingeläutet. Die Hauptursachen für diesen Erfolg sind das Scheitern des Friedensprozesses, die mannigfaltigen innenpolitischen Probleme und die Auswirkungen des Wahlsystems. Die Hamas-Regierung wird die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nicht umgehend akzeptieren. Daher werden einseitige Schritte Israels der einzig Erfolg versprechende Lösungsansatz bleiben. Die Entwicklung dieser Strategie signalisiert einen Paradigmenwechsel von Politikansätzen für den israelisch-palästinensischen Konflikt: von der Konfliktlösung zum Konfliktmanagement. Hamas wird jedoch nicht notwendigerweise eine Welle des Terrorismus gegen Israel auslösen und ist stärker an einer Aufrechterhaltung des Status quo interessiert. Starker Druck auf die Palästinenser mit dem Ziel, die Hamas-Regierung zu stürzen und Fatah zurück zur Macht zu bringen, könnte kontraproduktiv wirken. Die internationale Gemeinschaft sollte daher das Ergebnis demokratischer Wahlen anerkennen und das Zustandekommen der vereinbarten Regierung der nationalen Einheit fördern. Sie sollte die Fortsetzung eines koordinierten Entflechtungsprozesses unterstützen, sofern weitere israelische Teilrückzüge durchgeführt werden. Die drei Forderungen der internationalen Gemeinschaft an die Hamas sollten kompromisslos im Prinzip, aber flexibel in der Praxis interpretiert werden.

Der Verfassungsprozess im Irak hat keinen breiten Konsens geschaffen, der als belastbare Grundlage für nationale Versöhnung dienen könnte. Die sunnitisch-arabische Minderheit wurde in kritischen Stadien des Prozesses ausgeschlossen, und das Dokument spricht den Regionen so viel Macht zu, dass die zukünftige Funktionsfähigkeit des Zentralstaates in Frage gestellt werden muss. Europa hat die Legitimität des politischen Prozesses in unverzichtbarer Weise erhöht, an der Trainingsmission für irakische Offiziere der Nato teilgenommen, Iraks Schuldenberg spürbar reduziert und den Prozess des Wiederaufbaus unterstützt. Ein größeres Engagement der EU im Irak wird von der Qualität der transatlantischen Beziehungen, der Lage im Land selbst und der allgemeinen Nahostpolitik der EU abhängen. Die Europäer sollten die Möglichkeiten und Grenzen ihres Engagements im Irak realistisch bestimmen und eine unterstützende Rolle spielen. Europa sollte auf der Bewahrung der territorialen Integrität des Irak bestehen und die Notwendigkeit einer substanziellen Verfassungsrevision betonen. Es sollte sein Engagement bei der Schaffung inklusiver Institutionen ausweiten, insbesondere im Sicherheitssektor, und die Wiederbelebung und internationale Integration der irakischen Zivilgesellschaft fördern.

Das iranische Nuklearprogramm ruft in der Region und im Westen wachsende Besorgnis hervor. Der Nutzen von Sanktionen gegen den Iran ist fraglich, sogar wenn die Unterstützung Russlands, Chinas und anderer Schlüsselakteure gesichert werden könnte. Sanktionsdrohungen müssen durch eine langfristig angelegte Verhandlungsstrategie ergänzt werden. Ein durchdachtes Bündel von Anreizen sollte die Kosten-Nutzen-Analyse der iranischen Entscheidungsträger verändern. Daher sollten die Vereinigten Staaten einen gewaltsamen Regime-Wechsel als Politikoption explizit ausschließen, einen separaten bilateralen Verhandlungskanal eröffnen und iranische Kooperation mit einem breiten strategischen Dialog, der Freigabe von eingefrorenen Finanzmitteln, der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen und letztlich der Gewährung von Sicherheitsgarantien belohnen. Iran sollte eine sehr eingeschränkte Anreicherungskapazität unter strenger internationaler Überwachung und nach einem längeren Moratorium zugestanden werden, um die gegenwärtige Blockade wegen des Anreicherungsrechts auf iranischem Boden aufzulösen. Ein Militärschlag ist auf Grund der dezentralen Natur des iranischen Programms und der drohenden asymmetrischen Antwort eine sehr unsichere Option. Der Sturz des Regimes in Teheran nach dem "afghanischen Modell" - wie manche in Washington fordern - wäre ein verantwortungsloses Abenteuer mit möglicherweise katastrophalen Auswirkungen für Irans Zukunft als einheitlicher Staat.

Trotz einer Serie von Krisen leidet die Region des Persischen Golfs unter einem fast vollständigen Mangel an kollektiven Sicherheitsmechanismen. Das wachsende amerikanische Militärengagement am Golf hat sich als kontraproduktiv erwiesen und wird in Zukunft kaum aufrechtzuerhalten sein. Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein hat ein Haupthindernis für die Schaffung einer regionalen Sicherheitsarchitektur in der Region beseitigt und neue Möglichkeiten für intensivere Kooperation eröffnet. Ein Erfolg versprechender Versuch in dieser Hinsicht sollte auf einer Reihe von allgemeinen Prinzipien wie Inklusivität, Vollständigkeit und Flexibilität aufbauen. Ausgangspunkt könnte eine internationale Konferenz sein, die Arbeitsgruppen in einer Reihe von Feldern der regionalen Kooperation einrichtet, von denen alle Anrainer profitieren könnten, insbesondere zu den Themen: Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität, Stabilisierung des Irak, schrittweise Regionalisierung bestehender bilateraler vertrauensbildender Maßnahmen, wirtschaftliche Kooperation, Katastrophenschutz und Zusammenarbeit in Umweltfragen.

Die EU kann mit Sicherheit keine Alternative zum amerikanischen Sicherheitsschirm in der Region anbieten; sie könnte jedoch durch ihre guten Beziehungen zu allen relevanten Akteuren eine ergänzende Rolle spielen. Ein ambitionierter Ansatz gegenüber der Golfregion erfordert den schrittweisen Ausbau der europäischen Präsenz in der Region auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene.

Der Ausgangspunkt für die Demokratisierung der Region muss ohne den Rückgriff auf einfache Schablonen überdacht werden. Der indirekte und stufenweise Ansatz der Europäer, der über ein Jahrzehnt den Barcelona-Prozess geprägt hat, ist weitgehend ohne greifbare Ergebnisse geblieben. Doch die unverblümte Rhetorik der von den USA geführten Broader Middle East and North Africa-Initiative und der Versuch der Demokratisierung des Irak durch eine militärische Invasion hat mit den Völkern der Region die wichtigsten Nutznießer der Demokratie entfremdet. Ein anspruchsvoller Ansatz müsste die Attraktivität des europäischen Engagements mit der amerikanischen Durchsetzungsfähigkeit mit Blick auf politische Reformen verbinden. Das erste Ziel sollte die Stärkung der Fundamente der Demokratie sein, insbesondere die Förderung der nationalen Integration, die Entwicklung der Medien, die Schaffung von Rahmenbedingungen für kollektives Handeln und der Ausbau des Rechtsstaates.

In einem zweiten Schritt sollte der politische Kern der Machtbeziehungen ins Zentrum rücken, vor allem durch Unterstützung für den Aufbau von politischen Parteien mit Massenanhang, Steigerung des Wettbewerbscharakters von Wahlen und die Forderung nach wachsendem Einfluss von Parlamenten und Gerichten. In diesem Kontext wird die Zusammenarbeit mit Organisationen des islamistischen Mainstreams unumgänglich sein, da diese die einzigen Oppositionsgruppierungen mit breiter Unterstützung sind.

Der Autor

Felix Neugart ist Politologe und arbeitete bis vor kurzem für die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am Centrum für Angewandte Politikforschung in München. Er hat Ergebnisse der Diskussionen der 10. Kronberger Nahost-Gespräche der Bertelsmann Stiftung im Lichte der jüngsten Kriege und Krisen in dieser Dokumentation reflektiert.

Die Bertelsmann Stiftung in Gütersloh will mit ihrem Projekt "Europa und der Nahe Osten" unter Leitung von Christian Hanelt Ideen in den politischen Raum einspeisen, wie die Europäische Union ihre Nachbarschaft mit Israel, Iran und der Arabischen Welt konfliktärmer gestalten kann.

Diese Ideen, erarbeitet von Experten, werden regelmäßig in Strategiepapieren Politikern, Parlamentariern, Unternehmern und Intellektuellen aus Europa, Amerika, Nordafrika und dem Nahen Osten auf den Kronberger Gesprächen zur Diskussion offeriert.

Mehr zum Thema findet sich im Internet unter:
www.bertelsmann-stiftung.de/europa-nahost


News zum Thema


Bavarian-Tunisian Cooperation
German National Day celebrates cooperation with Tunisia
09.10.2017 · C·A·P

„Das ist keine historische Wende im Syrien-Konflikt“
Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld
08.04.2017 · Abendzeitung

Second workshop on Policy Advice in Tunisia
Gathering young Tunisian experts
04.10.2016 · C·A·P

First expert papers calling for policy reforms in Tunisia published
Key challenges in the policy fields of women’s rights, local corruption and entrepreneurship
14.09.2016 · C·A·P

no-img
Tunisia, Egypt and Morocco
Precarious stabilisation under different circumstances
14.04.2015 · By Michael Bauer / Orient (II/2015)