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Strategische Neuakzenturierungen gegenüber Russland

Debatte zur Rekonstruktion des Westens

Von Dr. Heinz Timmermann, Köln / SWP (extern)

01.04.2004 · Russlandanalysen 21/2004



In seinem FAZ-Interview vom 6. März 2004 legt Außenmister Fischer überzeugend dar, daß vor allem zwei Ereignisse der letzten Jahre die deutsche und europäische Politik vor neue Aufgaben stellen. Gemeint sind die Beendigung der Ost-West-Konfrontation und die Herausforderungen des internationalen Terrorismus. Zu Recht zieht er daraus den Schluß, daß sich die EU nicht auf Neuüberlegungen zur inneren Struktur der Union beschränken darf, so wichtig diese für die zukünftige innere Kohäsion sowie für das geschlossene und damit auch nach außen wirkungsmächtige Auftreten sind. Vielmehr gelte es angesichts neuer Herausforderungen, eine selbständige, an den eigenen Interessen orientierte außen- und sicherheitspolitische Strategie zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf den mit einem Beitritt der Türkei auch geographisch näherrückenden Nahen und Mittleren Osten.

Merkwürdigerweise geraten dem Außenminister bei seinen Strategiekonzepten Rußland und die zukünftigen Neuen Nachbarn der erweiterten EU, nämlich die Ukraine, Belarus und Moldova, nicht in den Blick. Und dies, obwohl die EU nach dem für 2007 anvisierten Beitritt Rumäniens eine gemeinsame Grenze von über 5ooo km mit den vier Ländern haben wird - Ländern, die in unterschiedlichem Grade auch weiterhin Merkmale von Instabilität aufweisen und daher strategische Aufmerksamkeit verdienen. Worin liegen die Gründe für das Vakuum in der Strategie des Außenministers? Wollte er sich bewußt auf die Krisenregion des Nahen und Mittleren Ostens konzentrieren? Oder ist er der Ansicht, daß sich die Dinge in Rußland und der westlichen GUS normal entwickeln und ihnen daher für die gemeinsame Strategie der EU nur sekundäre Bedeutung zukommt? Das wäre, wie die jüngsten Entwicklungen in Rußland zeigen, ein fataler Irrtum. Eine umfassende außen- und sicherheitspolitische Strategie der EU muß auch Rußland und sein regionales Umfeld einschließen - einen Raum, der noch keineswegs konsolidiert ist und die Interessen der Union stark berührt.

In Rußland hat der Durchmarsch von Konservativen und "Nationalpatrioten" bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen eindrucksvoll demonstriert: Hier wächst ein staatsfixiertes autoritäres Regime heran, dessen Stärke und Stabilität ihren Ausdruck in der Machtvertikale des Präsidenten findet, nicht aber in Transparenz und Berechenbarkeit gewährender Gewaltenteilung, in funktionierendem Rechtswesen und demokratischer Öffentlichkeit. Dies führt zu einem unterschiedlichen Verständnis von Partnerschaft, in deren Zeichen sich die Vertragsbeziehungen zwischen Rußland und EU entwickeln. Für Rußland und seine Interessen gilt die EU vorrangig als wirtschaftlicher Modernisierungspartner, der Charakter des politischen Systems ist dabei weitgehend irrelevant. Die EU läßt sich zwar auch von konkreten Interessen leiten, verbindet diese aber mit der Erwartung an Moskau, seine Politik auf gemeinsame demokratische Werte als zentrale Voraussetzung für die Bildung gesamteuropäischer Räume zu gründen.

Strategische Neuakzentuierungen gegenüber Rußland als Folge wachsender Differenzen im Werte- und Demokratieverständnis bedeuten nicht, das Land an den Rand zu drängen oder es überhaupt zu ignorieren, wie es je nach politischer Konjunktur die USA aus ihrer überlegenen Position heraus mitunter praktizieren. Als Mitspieler wird Rußland auch in Zukunft dringend gebraucht: aufgrund seiner Größe, seiner geographischen Nähe, seines Nutzen- und Schadenpotentials sowie seiner Rolle als regionaler und globaler Akteur (übrigens auch in dem von Fischer herausgehobenen Nahen und Mittleren Osten). Dies erfordert eine Einbeziehung des Landes in gesamteuropäische Kooperationsprozesse und weltweites Krisenmanagement. Ein eindrucksvolles Beispiel für konstruktive Lösungen trotz ursprünglich scharf divergierender Positionen ist die Regelung des Personentransits zwischen dem russischen Kernland und seiner Exklave Kaliningrad vom November 2002. Sie sollte beiden Seiten als Ansporn für die Suche nach Kompromiß und Verständigung auch auf anderen Gebieten dienen, z.B. durch Balancieren der Vor- und Nachteile, die Rußland handelspolitisch mit der EU-Erweiterung entstehen.

Schwer vorstellbar ist vorerst allerdings eine weitergehende Einbindung Rußlands in die europäischen Integrationsprozesse, eine vertiefte Partnerschaft mit ihren Aspekten Annäherung in Grundwerten und Prinzipien von Demokratie, Übereinstimmung der Wirtschaftsordnungen, Nähe der außen- und sicherheitspolitischen Positionen. In einer Rußlandstrategie sollte die EU vor allem eins berücksichtigen: Rußland betrachtet sich als eigenständige Großmacht und will erklärtermaßen an seiner vollen Handlungsfreiheit sowohl nach innen als auch nach außen festhalten. Einsprüche gegen die Verletzung gemeinsam fixierter Prinzipien (z.B. mit Blick auf den brutalen Tschetschenienkonflikt) gelten in Moskau auch weiterhin als unerwünschte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands.

Dies führt zu einem weiteren Desiderat in den strategischen Überlegungen des Außenministers. Gemeint sind die geopolitischen Ungewißheiten und potentiellen Gefährdungen für die Zukunft der Neuen Nachbarn zwischen der erweiterten EU und Rußland. Zu befürchten ist, daß sich der Zuwachs von Konservativen und "Nationalpatrioten" in den jüngsten Wahlen in Rußland und das selbstbewußte Auftreten der Putin-Administration gerade im postsowjetischen Raum hinfort noch stärker auswirken wird. Voraussichtlich werden sich jene Stimmen mehren, die den westlichen GUS-Raum wie bereits in den 90er Jahren als vorrangige Einflußzone Rußlands betrachten und die künftige Zusammenarbeit mit der EU von der Anerkennung dieses Anspruchs abhängig machen. Verwiesen sei hier u.a. auf die Problemkomplexe Georgien, Moldova/Transnistrien, integrierter Einheitlicher Wirtschaftsraum insbesondere mit der Ukraine, Streben nach Aufkauf von Filetstücken im belarussischen Energiebereich. Damit würde die prekäre Zwischenlage der Neue-Nachbarn-Staaten verschärft - im Innern in Form von Kontroversen zwischen dem prorussischen und dem proeuropäischen Lager, in den internationalen Beziehungen als Integrationskonflikt zwischen Rußland und der EU. Für die EU ist die russische Position - Moskau gleichsam als Tor zu den Staaten der GUS - schlicht inakzeptabel.

In diesem Kontext sollte eine EU-Strategie zwar russische Interessen in den westlichen GUS-Staaten in ihr Kalkül einbeziehen (das von Fischer kurz erwähnte EU-Nachbarschaftskonzept vom März 2003 geht auf solche Zusammenhänge nicht ein). Das gilt um so mehr, als die Neuen Nachbarn in ihrer Energieversorgung fast vollständig von Moskau abhängig und in ihren Exporten noch immer stark auf Moskau ausgerichtet sind. Zugleich sollte die EU in einem Strategiekonzept jedoch die Unabhängigkeit dieser Staaten unterstreichen, in je spezifischer Weise offen nach Ost und West. Die Akzente sollten dabei nicht wie bei den USA vorrangig auf Erlangen militärstrategischer Vorteile zielen. Vielmehr sollte sie umfassende, nachhaltige und nachprüfbare Förderung betreiben, die mehrdimensional angelegt ist, also neben wirtschaftliche auch demokratische Modernisierung einschließt. Mit einer so angelegten Strategie würden übrigens auch die eher rußlandkritischen Beitrittsländer Ostmitteleuropas eher eingebunden werden können.

Angesichts einer zukunftsoffenen Situation sollte die Rußlandstrategie der EU von Pragmatismus, Realismus und wenn nötig auch freimütiger Kritik geprägt sein, um die beiderseits frusttreibende Lücke zwischen Rhetorik und Realität zu schließen. Zugleich sollte sie von der Annahme ausgehen, daß Rußland eine demokratische Entwicklung nehmen kann und nicht historisch zur Neuauflage eines streng autoritären Regimes verdammt ist. Auch Deutschland hat sich von früheren, scheinbar fest verwurzelten autoritären Politikmustern und Sonderwegen verabschiedet und nach dem Zweiten Weltkrieg - freilich unter anderen Bedingungen - den Pfad einer funktionierenden Demokratie eingeschlagen. Voraussetzung für eine wirkungsvolle EU-Strategie gegenüber Rußland ist freilich, daß die Union selbst kohärente Positionen bezieht und sich nicht - wie unter der italienischen Präsidentschaft geschehen - durch eigenwillige, Recht, Menschenrechten und Medienfreiheit widersprechende Positionen ihrer höchsten Repräsentanten unglaubwürdig und sogar lächerlich macht.


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