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Im Kern Europas

Der Streit um die EU-Verfassung wird überschätzt

Von Christoph von Marschall

11.01.2004 · Der Tagesspiegel



Erstaunlich, dass sie schon wieder so zuversichtlich sind. Aber das ist wohl eine Temperaments- oder Charakterfrage: wie man mit Niederlagen umgeht. Das Scheitern der EU-Verfassung beim Brüsseler Gipfel Mitte Dezember war eine Schlappe: für Europa, das sich über ein so hehres Projekt zerstritt; für Deutschland, Frankreich und die anderen, die die künftige EU der 25 durch neue Beschlussverfahren handlungsfähiger machen wollten; aber auch für Polen und Spanien, weil sie als Blockierer dastanden und nicht einmal überzeugend sagen konnten, was denn so toll ist an den undurchsichtigen Formeln von Nizza, die sie so stur verteidigten – außer dem Prestige, das sie damit verbinden, fast genauso viele Stimmen wie die vier ganz großen EU-Staaten zu haben. Realen Einfluss verlören sie durch das neue Verfahren nach der Verfassung nicht.

Nun geben sich Polen und Spanien plötzlich kompromissbereit, wollen eine Lösung vor Ende Juni, unter der irischen Präsidentschaft. Es sei doch gar nichts Schlimmes geschehen, versuchen Warschaus Emissäre den Schock herunterzuspielen – den eigenen wie den der Partner, dass der EU-Neuling tatsächlich zu blockieren gewagt hatte. Vielleicht aber auch aus Sorge, die versteckten Drohungen könnten wahr werden: dass Polen sein Verhalten bei den Finanzverhandlungen büßt oder dass die Alternative zur Verfassung Kerneuropa sei, ohne Polen. „Nic sie nie stalo“ (nichts ist passiert) – das war schon der Schlachtgesang der polnischen Fans bei der Fußball-WM in Korea nach jeder Niederlage, in der Hoffnung auf Besserung. Am Ende fuhr Polen als Gruppenletzter vorzeitig heim.

Auch Frankreich tut so, als sei nichts Besonderes vorgefallen. Doch bei Präsident Chirac drängt sich ein ganz anderes Motiv dafür auf: die klammheimliche Freude, dass Paris nun umso leichter Kerneuropa forcieren – und so die ungeliebte Erweiterung neutralisieren könne, die Frankreich als Ausweitung der deutschen Einflusssphäre versteht. Chirac sieht die Krise als Chance. Speziell Frankreichs Chance, die EU so zu rejustieren, dass Paris den durch die Erweiterung bedrohten Führungsanspruch durchsetzen und Europa leichter zu Amerikas Gegenpol machen kann.

Und Deutschland? Außenminister Fischer versuchte es beim Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin mit einer Mischung aus eindringlichem Werben um ein Einlenken der Blockierer, der Hoffnung auf das Vermittlungsgeschick des Iren Bertie Ahern, der von Italiens Undiplomat Berlusconi den EU-Vorsitz übernommen hat, und einer der für Fischer typischen düsteren Prognosen: Bekomme die EU der künftig 25 keine handlungsfähigen Institutionen, drohe eine neue Spaltung des Kontinents durch ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten.

Mit Druck hätte auch der Kanzler hantiert, nur weniger katastrophenschwanger – wenn ihn nicht die Grippe an der Grundsatzrede zu Europas Schicksalsjahr 2004 gehindert hätte. Deutschland will statt Nizza die „doppelte Mehrheit“ der Verfassung; als kleines Korrektiv gegen eine Übermacht kleiner Staaten spielen dort auch die Bevölkerungszahlen eine Rolle. Und Deutschland will Kerneuropa nicht, das angeblich die unausweichliche Alternative sei. Fischer hofft auf eine Einigung bis Juni. Schröder laut Manuskript der ungehaltenen Rede bis Jahresende – ansonsten widmete er sich stärker den Themen Innovation, Wachstum, Beschäftigung.

Und EU-Europa? Das hat weder ein Durchschnittstemperament noch einen integrierten Charakter. Sondern wird getrieben von Ereignissen, die nur gewisse Zeitfenster für Kompromisse lassen. Im Juni wird das neue Europaparlament gewählt, die heiße Wahlkampfphase beginnt mancherorts spätestens im April. Danach muss eine neue EU- Kommission mit den am 1. Mai beitretenden zehn Neumitgliedern gebildet werden, die erst am 1. November im Amt sein wird. Mit der Verfassung muss es also ganz schnell gehen – oder man muss wohl noch viel mehr Geduld aufbringen als Schröders zwölf Monate.

Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor sind die anstehenen Finanzverhandlungen. Sie können den Streit belasten – oder Lösungsansätze bieten, weil man Kompromisspakete aus Finanzhilfen und Verfassungszugeständnissen schnüren kann, auch wenn die sachlich nichts miteinander zu tun haben.

Die Verfassung hat also eine Chance, ganz schnell oder mittelfristig. Und selbst wenn sie nicht genutzt wird, bricht Kerneuropa auch nicht wie ein Verhängnis über die EU herein. Europa hätte ja gültige Abstimmungsverfahren: die von Nizza. Nur sind die eben nicht so gut wie und weniger gerecht als die doppelte Mehrheit der Verfassung. Deutschland stände dann jedoch vor der Entscheidung, sich offen gegen das französische Drängen auf Kerneuropa zu stellen – jedenfalls gegen eines, das die Neumitglieder ausgrenzt (oder allenfalls aus kosmetischen Gründen ein, zwei kleine wie Slowenien und Estland einbezieht). Eine solche Relativierung der Erweiterung nach Osten liegt nicht im deutschen Interesse. Was die deutsche Drohung mit Kerneuropa nicht glaubwürdig macht, Temperament hin, Charakter her.


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