Die verhinderte Weltmacht
Europa mangelt es an strategischem Denken und dem Willen zur Gestaltung
Von Werner Weidenfeld
08.03.2003 · Die Welt
All diesen gefährlichen Entwicklungen stehen keine neuen Ordnungsformen gegenüber, die weltpolitisch Halt und Zuverlässigkeit bieten könnten. Die einzig verbliebene Supermacht USA hat zu einer Politik der Welthegemonie weder Wille noch Potenzial. Die Politik folgt auch in ihren ausgreifenden Formen dem nationalen Interesse der Existenzsicherung. Die amerikanische Politik verbindet dabei das Gespür für die eigene, überragende Macht mit der traumatischen Erfahrung der Verletzbarkeit. Nur wer den Alptraum des 11. September nachvollziehen kann, der begreift das neue Amerika. Die UNO als Weltorganisation verfügt nicht über die formative Kraft und Durchsetzungsfähigkeit. Zu sehr ist sie bloße Widerspiegelung jener untergegangenen Ära der Sieger des Zweiten Weltkrieges und des anschließenden Ost-West-Konflikts. Auch das in der Abschreckung zusammenspielende Tandem der Bündnisse von Nato und Warschauer Pakt existiert nicht mehr. Entsprechend erratisch ragt die Nato aus dieser Zeit in die Gegenwart hinein. Sie hat ihr Gegenüber, vor dem sie die Bürger schützen soll, verloren. Sie ruft erstmals den Verteidigungsfall aus - und niemand fordert daraus praktische Schritte. Elemente der Skurrilität sind unübersehbar.
Staaten allein haben nicht das Potenzial, jene explosiven Kräfte des Jahrhunderts wirklich zu disziplinieren. Die Modernisierung setzt ethnische Dynamik, nationalistische Energie und religiöse Militanz frei. Und welche weltpolitische Antwort bietet Europa darauf? Selbstmitleid, Bekundungen der Ohnmacht und Kritik an anderen. Man werde von den USA nicht oder nur unzulänglich konsultiert, Washington ginge sowieso seinen eigenen Weg, notfalls unilateral. Mal stellt sich Europa in den Schmollwinkel, mal ins weltpolitische Abseits, aber nirgends ist ein weltpolitisch ordnender Einfluss spürbar. Dies muss zunächst verwundern, wenn man das Potenzial Europas ins Auge fasst:
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Die Bevölkerung der EU wird von heute 371 Millionen auf 539 Millionen anwachsen; etwa doppelt so viel wie die der USA.
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Ihre Fläche beträgt 5 097 000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Hälfte der USA.
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Das Bruttosozialprodukt liegt um rund 15 Prozent höher als das der USA.
Dieses Potenzial könnte also den Status einer Weltmacht definieren: cirka 35 Prozent der Weltproduktion (USA: 27) und etwa 30 Prozent des Welthandels (USA: 18) liegen in europäischen Händen. Dieses Potenzial hat sein herausragendes Gewicht - auch wenn man die künftige Architektur der Weltpolitik in Augenschein nimmt: Nach dem Zerfall der bipolaren Grundstruktur ordnet sich die Konstellation weltpolitischer Macht neu - eine rein unipolare Struktur widerspräche der Komplexität von Weltpolitik und Weltwirtschaft wie den Interessenlagen und Handlungsmöglichkeiten anderer Akteure. Die internationale Politik werden künftig drei Strukturmuster bestimmen: die regionale Kooperation, die globale Interessenvertretung und die ordnungsprägende Rolle von Staaten. Dabei begründen sechs Kriterien den Status einer Weltmacht:
1) Eine herausragende Wirtschaftskraft, gekennzeichnet durch den Zugang zu Rohstoffen, Volumen und Produktivität des Binnenmarktes, eine Führungsposition im Welthandel wie auf den globalen Finanzmärkten, die Fähigkeit zur Innovation und Kapitalbildung
2) Eine große Bevölkerungszahl, hohes Bildungsniveau, dichte Infrastruktur und ausgeprägte Gestaltungs- und Absorptionsfähigkeit
3) Eine herausragende militärische Leistungsfähigkeit, gekennzeichnet durch relative Unverwundbarkeit, die Fähigkeit zur Abschreckung sowie zur Projektion militärischer Macht
4) Ein attraktives Gesellschafts- und Wertesystem sowie der exemplarische Nachweis der Ordnungs- und Führungsfähigkeit im eigenen regionalen Umfeld
5) Ein handlungsfähiges politisches System mit der Fähigkeit zur Mobilisierung der Ressourcen für weltpolitische Ziele, dem Potenzial für Allianzbildung
6) Das Bestehen eines politischen Konsens über eine Weltordnungsidee sowie die Bereitschaft zum Engagement in internationalen Foren
Die Staaten und internationalen Organisationen, welche die Rangliste dieser Kriterien anführen, werden die künftigen Weltmächte sein. Die Gewichtung der Kriterien wird davon abhängen, ob diese Weltmächte in Gegnerschaft oder Partnerschaft zueinander agieren. Unstreitig führen die Vereinigten Staaten diese Rangliste an; sie erfüllen beinahe alle der genannten Kriterien. Diese Position wird jedoch latent durch die Folgen einer Überdehnung ihrer weltpolitischen Rolle geschwächt. Andere potentielle Weltmächte weisen jeweils gravierende Schwächen auf:
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Trotz eines enormen wirtschaftlichen Aufstiegs fehlt China vor allem die wirtschaftliche Effizienz, Modernität und Kapitalbasis für die kommende Phase eines intensiven Wachstums, denn die Planwirtschaft erwirtschaftet Defizite. Die zweite Schwäche liegt in den Erosionstendenzen seines politischen Systems.
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Japan kontrolliert nicht den Zugang zu seinen wichtigsten Rohstoffen, besitzt derzeit noch ungenügende Verteidigungs- und keine Abschreckungsfähigkeit. Eine normative Idee zur Gestaltung der internationalen Ordnung ist gegenwärtig nicht erkennbar.
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Russland verfügt kaum über positive Attribute einer Weltmacht, kontrolliert aber strategische Rohstoffe und besitzt eine überragende Zerstörungsfähigkeit, die angesichts der labilen politischen Lage mittelfristig nicht kalkulierbar ist.
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Indiens Position unter den Weltmächten stützt sich im Kern nur auf das Potenzial einer riesigen Bevölkerung, nicht-konventionelle Bewaffnung und die Führungsambitionen der politischen Klasse; sie wird geschwächt durch ungelöste Territorial- und Machtkonflikte.
Im Vergleich zu diesen Akteuren kommt das Potenzial der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten - ja es ist ihm in wichtigen Teilen sogar überlegen. Nicht erst seit 1989 ist das integrierte Europa eine Weltmacht im Werden. Die EU bündelt die in den vier ersten Kriterien benannten materiellen und institutionellen Ressourcen in höherem Maß als die meisten Staaten der Welt.
Ihre Schwäche liegt jedoch bisher in der Erfüllung der übrigen Kriterien: in der Lücke zwischen Potenzial und politischer Infrastruktur, in der wirksamen Bündelung der politischen Energie und im fehlenden Denken in weltpolitischen Kategorien.
Die Europäische Union ist, zusammen gesehen mit dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewicht ihrer Mitglieder, weit mehr als eine Regionalmacht. Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik der EU umfasst Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz.
Die Schlüsselfrage lautet: Kann Europa dieses Potenzial in weltpolitische Gestaltungskraft übersetzen? In der Geschichte der Integration hat es mehrere Versuche gegeben, eine eigenständige, weltpolitisch relevante Kapazität zu organisieren. Es gab in den fünfziger Jahren den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft. Als diese scheiterten, wurde der Gedanke aus den Römischen Verträgen ausgeklammert. Aber wenige Jahre später unternahm der französische Präsident de Gaulle einen neuen Versuch: die Fouchet-Pläne. Als auch diese scheiterten, nahmen Adenauer und de Gaulle gemeinsam die Sache in die Hand. Es entstand die Idee zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag in einer höchst spannungsgeladenen Zeit: Berlin-Ultimatum 1958 und anschließende Berlin-Krise, der Mauer-Bau 1961, das Scheitern der Europäischen Politischen Union 1962, das französische Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG 1962/63, die Kuba-Krise 1962, die sicherheitspolitischen Irritationen innerhalb der Nato; innenpolitische Schwierigkeiten de Gaulles, der Machtverlust Adenauers. Die angemessene Antwort, so Adenauer und de Gaulle, könne nur eine Union von Frankreich und Deutschland bilden, die sich offen halte für andere europäische Staaten mit ähnlichem außenpolitischen Sensus.
Sie hatten ursprünglich sogar daran gedacht, eine gemeinsame deutsch-französische Staatsbürgerschaft einzurichten. Beide Völker sollten vernetzt werden. So sollte die Union von Deutschland und Frankreich eine handfeste Anschauung des künftigen Vereinigten Europas bieten. Weltpolitisch relevant, sicherheitspolitisch stark und außenpolitisch mit einer Stimme sprechend - so wollten es die beiden Staatsmänner. Hier sollte ein Schlüssel für eine neue Architektur der internationalen Politik entstehen.
Was ist daraus bis heute geworden? Zunächst hatten damals die Gegner des Vertrags richtigerweise verstanden, dass es hier offenbar um mehr ging als nur das übliche bilaterale Freundschafts- und Verständigungspathos. Es gelang ihnen, mit dem Zusatz der Präambel der Vertragsidee die eigentliche weltpolitische Substanz zu nehmen. Vor diesem Hintergrund bot dann der Vertrag den Rahmen für die üblichen bilateralen Beziehungen, deren Ausgestaltung mal besser und mal schlechter gelang. Von der Schaffung des Euro bis zum Gemeinsamen Markt, vom Streit um die Agrarfinanzierung bis zum Konflikt um die Stimmgewichtung beider Länder im EU-Ministerrat reicht die Melange aus glückhaften und schmerzlichen Momenten. Zu keinem Zeitpunkt aber erreichte das deutsch-französische Verhältnis wieder jenen weltpolitischen Horizont der Jahre 1962/63, der nach einem großen historischen Schritt verlangte. Es ging um nicht weniger als um eine Union von weltpolitischer Relevanz in Korrektur der nationalstaatlichen Architektur Europas.
Später kam es dann mit der Schaffung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), ihrem Ausbau zur Gasp und zur ESVP lediglich noch zu einer Art Minimallösung. Man verständigte sich auf eine Konsensmaschinerie. Aber eine weltpolitische Strategie, ein offensives Krisen- und Konflikthandeln ergibt sich daraus nicht. Was noch hinzukommt: Im Zuge der Erweiterung wird weltpolitisches Denken neu begründet werden müssen.
Im Kern fehlt Europa für weltpolitisches Handeln nicht nur ein operatives Zentrum, es fehlt vor allem ein strategisches Denken. Die großen Mächte Europas haben allesamt ihre weltpolitische Komponente eingebüßt - Großbritannien, Frankreich und Spanien mit dem Verlust ihrer Imperien und Kolonialreiche, Deutschland mit seinen kriegsauslösenden wahnhaften Ausbrüchen, die zu einer Tabuisierung eines Denkens in weltpolitischen Interessenskategorien führte. Keiner dieser Staaten hat den Führungswillen entwickelt, den nationalen Verlust seines weltpolitischen Horizonts nun europäisch zu kompensieren. Das Defizit an strategischem Denken erweist sich so als eigentliche Achillesferse Europas. Es existiert keine Agenda, die Europa in Krisen und Konflikten eine Orientierung geben könnte. Dies fehlt für die transatlantischen Auseinandersetzungen ebenso wie für den Nahen Osten, für die ethnischen Explosionen auf dem Kaukasus wie in Südostasien, für den Kaschmirkonflikt wie für den Staatenzerfall in Afrika. Erst wenn es Europa gelingt, eine Kultur des weltpolitischen Denkens zu entwickeln, wird es eine markante gestalterische Relevanz erhalten. Europa braucht ein rationales Kalkül seiner weltpolitischen Interessen.
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