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Ein neuer europäischer Grundkonsens

Sinn und Ziel des Verfassungsentwurfs

Von Roman Maruhn

30.05.2003 · WechselWirkung Mai/Juni 2003



Der Entwurf für eine Verfassung wird gerade vom Europäischen Konvent fertig gestellt. Bleibt in der Öffentlichkeit Sinn und Ziel dieses Vorhabens weit gehend dunkel, lässt sich feststellen, dass ein Grundgesetz für die Europäische Union keine Minute zu früh kommt. Die Verankerung der europäischen Integration in einem konstituierenden Rechtsakt ist notwendig für die Staatlichkeit der EU. Nur im politischen Gemeinwesen Europa können die Mitgliedsländer sowohl gegenüber der Außenwelt als auch untereinander bestehen.

Die Europäische Union von heute ist nur schwer mit ihren Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen.
In den fünfziger Jahren steht mit der Zusammenarbeit in den Schlüsselindustrien Kohle und Stahl der Aspekt der Friedenssicherung nach einem verheerenden Krieg im Vordergrund. Mit der Vergemeinschaftung der Landwirtschaft und der zivilen Atomforschung kommen weitere strategische Ziele hinzu: Die Versorgung mit Lebensmitteln und die Möglichkeit der friedlichen Nutzung des einstigen Hoffnungsträgers Nuklearenergie auch durch Verliererländer des Zweiten Weltkriegs.

In der historischen Perspektive mögen diese Integrationsprojekte romantisch erscheinen. Doch trotz damaliger Europabegeisterung sind die ursprünglich drei Europäischen Gemeinschaften das Ergebnis strategischen Denkens kühler Realisten gewesen. Auch die ambitionierten und gescheiterten Initiativen wie die Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Europäischen Politischen Gemeinschaft 1952 haben ein europäisches Gemeinwesens irgendwo zwischen Konföderation und supranationalem Überstaat zum Ziel.

Heute, 50 Jahre später, erleben wir ein europapolitisches Déjà-vu: Bereits 1953 wird ein 117 Artikel umfassender Verfassungsentwurf erarbeitet, der allerdings an den Regierungen der sechs Gründerstaaten scheitert. Man entscheidet sich statt dessen für einen funktionalistischen Ansatz und setzt die europäische Integration sektoral, in ausgewählten Politikbereichen, fort.

Über die Jahre wird das Modell der europäischen Zusammenarbeit zur Erfolgsgeschichte. Mit der Öffnung des Agrarmarkts, dem Abbau der Zölle für Produkte der Landwirtschaft, entsteht ein gemeinsamer Markt, der zum wirtschaftlichen Wohlstand beiträgt und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft für andere Länder interessant macht. Mit der ersten Erweiterung, dem Beitritt von Großbritannien, Dänemark und Irland 1973, setzt sich die Europäische Gemeinschaft (EG) und ihr Integrationsmodell nicht nur in Europa, sondern weltweit durch.
Der Reformbedarf ist allerdings schon damals riesig: Institutionen und Organe sind nicht effizient. Dem Gemeinsamen Markt fehlen eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik. Die Unterschiede der Lebensverhältnisse in den verschiedenen Regionen der EG sind erheblich und dem gemeinsamen Außenhandel fehlt das weltpolitische Pendant in Form einer gemeinsamen Außenpolitik.

Staats- und Regierungschefs bestimmen ab 1974 die Grundlinien der EG-Politik im Europäischen Rat. 1979 werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments erstmals direkt gewählt. 1981 treten Griechenland und 1986 Spanien und Portugal der EG bei - zum ersten Mal kann die EG für sich in Anspruch nehmen, aktiv die Demokratisierung und Stabilisierung ehemaliger Diktaturen zu unterstützen.
Mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte wird die politische Dimension der EG gestärkt: Die Europäische Politische Zusammenarbeit wird zur Keimzelle einer gemeinsamen Außenpolitik.

Der Fall der Berliner Mauer wird mit dem Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland die inoffizielle erste Osterweiterung der EG. Die Westeuropäer müssen aber auch nach Antworten für den Wandel in Mittel- und Osteuropa suchen. Der Beitrittswunsch der neuen Demokratien wird zur größten Herausforderung. 1995 stoßen auch in Folge des Ende des Kalten Kriegs Österreich, Finnland und Schweden zur Europäischen Union (EU) hinzu.
Das Spektrum der politischen und wirtschaftlichen Aufgaben hat sich mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam erweitert: Unter dem Dach der EU finden sich jetzt drei große gemeinschaftliche wie intergouvernementale Politikfelder. Der erste Pfeiler sind die Europäischen Gemeinschaften, während die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik die beiden anderen Pfeiler darstellen.

In den neunziger Jahren gelingt es der EU trotz der erheblichen Herausforderungen in Europa, wie dem Ende der Sowjetunion, der Bildung von neuen Staaten in der Nachbarschaft der Union, den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, ein recht hohes Tempo bei der Europäisierung des Alltagslebens der Bürger zu erreichen: Der weit gehend realisierte Binnenmarkt, der auch in Zukunft ein evolutionärer Prozess bleiben wird, bekommt zur praktischen Umsetzung die Gemeinschaftswährung Euro zur Seite gestellt. Allerdings beteiligen sich nicht alle Mitgliedstaaten an der Wirtschafts- und Währungsunion. Ähnlich verläuft die Entwicklung bei dem ebenfalls den Gemeinsamen Markt ergänzendem Schengener Abkommen, das die Grenzkontrollen abschafft.

Zum Leitmotiv der Europäischen Union entwickelt sich langsam die differenzierte Integration: Neue und tiefer in die nationale Souveränität hinein reichende Politikfelder werden nicht mehr von allen, aber von der Mehrheit der Mitgliedstaaten zusammen organisiert.

Dieser Trend wird sich in der Zukunft noch weiter verstärken: Die zehn Staaten, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten, werden eine EU vorfinden, die sich massiv von der EG unterscheidet, der sie sich zum Zeitpunkt ihrer wieder gewonnenen Souveränität nach der Auflösung der Sowjetunion anschließen wollten. Die Beitrittsverhandlungen haben die Länder zwar gezwungen, politische wie wirtschaftliche Kriterien zu erfüllen, dennoch wird aus Organisationsgründen wie aus der Zunahme von unterschiedlichen Interessenlagen ein Europa der 25 Mitgliedstaaten anders funktionieren müssen als das heutige Europa.

Es wird unvermeidbar sein, dass nicht nur eine Mehrheit, sondern auch eine Minderheit von Mitgliedstaaten Politik gemeinsam organisieren kann. Wie das geschieht, ob im Rahmen der EU oder außerhalb, das ist letztendlich die Schicksalsfrage, vor der Europa momentan steht.

Das Jahr 2003 steht unter dem Primat der Politik. Die veränderte Weltpolitik, die bevorstehende Erweiterung und die Strukturkrisen der großen Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich und Italien werden mit über das Schicksal Europas entscheiden.

Zudem ist die Zeit der Selbstfindung für Europa abgelaufen. Tat sich mit dem Rat von Laeken, der quasi eine Checkliste für die Zukunft der EU vorlegte, ein Zeitfenster für deren Beantwortung auf, so beginnt dieses sich jetzt zu schließen. Stärker als erwartet haben die neuen Mitgliedstaaten zur eigenen Rolle gefunden und diese in den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg auch gespielt. In der sensiblen Phase der Entscheidung, welche Finalität, welche Gestalt Europa in der Zukunft haben wird, sind die Mitgliedsländer und das System EU starkem externen Druck ausgesetzt.

Es geht um nichts weniger, als Europa wetterfest zu machen, nach innen wie nach außen. Die Allianzen- und Koalitionenbildung innerhalb wie außerhalb Europas, mit europäischen wie nicht-europäischen Partnern mag als Indiz für eine Zukunft gelten, in der globale Partnerschaften der Vergangenheit angehören und ein Wettbewerb zwischen rivalisierenden regionalen Blöcken einsetzt. Diesem Wettbewerb kann Europa in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht standhalten.

Bisher ist die EU in der Staatenwelt zumeist freundlich empfangen worden. In einem globalen Systemwettbewerb allerdings, der das Gewicht der Bevölkerung, die Fähigkeit zur internationalen Partnerschaftsbildung, den Wettkampf um regionalen Einfluss, den Kampf um Ressourcen und das Messen militärischer Stärke als Disziplinen haben wird, würde die EU zu zerbrechen drohen.

Die Aufgabenstellung ist bekannt. Trotzdem denken die Europäer noch nicht konsequent genug im großen Maßstab. Auch in Zukunft wird das Grundziel europäischer Integration lauten, Frieden zu garantieren. Das kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die EU auch äußere Stärke besitzt, Europa auch verteidigen kann. Und eine solche kritische Masse ist nur zu erreichen, wenn ein neuer europäischer Grundkonsens gefunden wird. Dieser Grundkonsens muss mindestens so ambitioniert sein, wie derjenige, der 1945 ausgerufen wurde: Nie wieder Krieg in Europa! Nach Diktaturen, zwei Weltkriegen innerhalb von 30 Jahren und dem größten Verbrechen der Menschheit, galt diese Idee lange als Vision oder sogar Illusion.

Mit demselben Anspruch ist nun die Idee des Großen Europas zu formulieren: Eine politische Union, die basierend auf einem europäischen Wertemodell den Sprung von der wirtschaftlichen Zweckgemeinschaft zu einer europäischen res publica schafft. Dieses Europa kann dann Versprechen erfüllen, die die alten Nationalstaaten heute nicht mehr halten können.


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