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Weise Steuerung des Systemwandels

Transformation zwischen strategischen Erfordernissen, Souveränität und Pragmatismus

Von Werner Weidenfeld

25.08.2001 · Frankfurter Allgemeine Zeitung



Mit der EU-Ost-Erweiterung, wann auch immer sie im einzelnen über die Bühne gehen wird, erreicht der wirtschaftliche und politische Systemwandel im Osten eine neue Qualität. Den Beitrittskandidaten ist mancher Reformschritt geglückt - auch wenn viel Heikles noch bevorsteht. Prekär sieht die Lage freilich im ehemaligen Jugoslawien aus, und auch in Sorgenländern wie Rumänien, Albanien, Bulgarien sind die Aussichten nach wie vor düster. So stellt sich weiter die Frage nach einer ausgewogenen Transformation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Grundsätzlich fragt sich: Wie ist die Entwicklung zu Demokratie und Markt erfolgreich zu bewältigen? Welche Rolle spielt die Unterstützung von außen? Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der Universität München, verweist auf die Interdependenz der Ordnungen und fordert eine bewußte Partnerschaft zwischen internen und externen Akteuren. (orn.)

Krisenherde in Afrika, Turbulenzen in Asien, nach wie vor militärische Instabilität auf dem Balkan und das Programm des Stabilitätspakts - allen diesen Fällen ist gemein, daß es sich um Wandel von Systemen handelt. Dieser Wandel gelingt oder mißlingt. Was abstrakt klingen mag, beschreibt eine der dramatischen Existenzfragen dieser Zeit. Es handelt sich für Millionen von Menschen um Leben oder Tod, um Wohlstand oder Elend, um Krieg oder Frieden. Merkwürdigerweise agiert die Politik in jedem Einzelfall unhistorisch, als gebe es keine Erfahrung. So bleibt nur situatives Krisenmanagement mit den bekannten Abgründen und Katastrophen. Die Frage nach Konzepten einer vernünftigen Steuerung von Entwicklungsprozessen und Systemtransformationen ist für viele Staaten und Regierungen zur Überlebensfrage geworden.

Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnen Anpassung und Wandel die politischen und ökonomischen Systeme der Welt. Dabei geben die mit der Globalisierung einhergehenden Herausforderungen den schneller werdenden Pulsschlag vor. Das Modernisierungstempo hält nicht allein die fortgeschrittenen Industrieländer in Atem; durch den zunehmenden Wettbewerb der Staaten steigt auch der Entwicklungsdruck. Definiert man die Schlüsselfaktoren einer nachhaltigen Zukunftsfähigkeit von Staaten, spielen Demokratie und Marktwirtschaft eine herausragende Rolle.

Tatsächlich hat in den vergangenen 25 Jahren eine Vielzahl von Staaten den Wandel zu Demokratie und Marktwirtschaft vollziehen können. Diese Transformationswelle hat sowohl erfolgreiche als auch weniger erfolgreiche oder gar gescheiterte Transformationsversuche hervorgebracht. Eindrucksvoll sind die Fälle der meisten mittel- und osteuropäischen Staaten, die ihre marktwirtschaftliche Demokratie nur zehn Jahre nach dem Umbruch bereits konsolidieren. Südkorea hat in nur vier Jahrzehnten den Weg von einer Entwicklungsdiktatur zu einem modernen Industriestaat zurückgelegt - die Substanz der jungen Demokratie hat dabei ausgereicht, die schwere Krise der asiatischen Volkswirtschaften unbeschädigt zu überstehen. In einzelnen Staaten Lateinamerikas wurden die Diktatoren vertrieben und substantielle Fortschritte im Aufbau einer Zivilgesellschaft erzielt. In anderen Staaten wie in Südosteuropa oder der ehemaligen Sowjetunion - auch in Rußland selbst - ist der Kampf mit Instabilitäten auf absehbare Zeit noch nicht beendet. Mehrfach wurde die Erkenntnis bestätigt, daß Entwicklungsprozesse auch Rückschläge erleiden können.

Entwicklungs- und Transformationsprozesse in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft gehören zu den dramatischsten Einschnitten, die Staaten und ihre Gesellschaften zu bewältigen haben. Daß umfassende Systemwandel zum zeitweisen Verlust von Stabilität und Steuerungsfähigkeit führen, liegt in der Logik der Sache. Denn mit jeder Transformation zur Demokratie wird zwangsläufig Macht abgegeben. Dies geschieht aber ohne Garantie, daß die neuen Machthaber verantwortlich und zielbewußt handeln wollen oder können und daß deren Ressourcen zur praktischen Umsetzung beabsichtigter Transformationsziele tatsächlich ausreichen.

Unweigerliche Konsequenz von ökonomischen Transformationsprozessen ist zudem meistens ein temporärer Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Der Entzug wirtschaftlicher Kraft gefährdet nicht selten die Legitimitätsgrundlage des gesamten Prozesses, wenn Arbeitslosigkeit, existentielle Verunsicherung und soziale Härten zunehmen. Zusammengefaßt liegt es daher im Wesen des Systemwandels, daß dessen eingeschränkte Steuerungsfähigkeit nicht nur Stabilitätsgefahren birgt, sondern auch zu Konflikten führen kann, die auch die Nachbarregion in Mitleidenschaft ziehen.

Die gescheiterten Transformationsprozesse beispielsweise in Afrika deuten darüber hinaus darauf hin, daß sowohl demokratische Staatsformen als auch marktwirtschaftlich funktionierende Volkswirtschaften nur dann Bestand haben können, wenn sie ihre grundlegenden Funktionen tatsächlich erfüllen können. Demokratisch orientierte Systeme ohne ausreichende Zustimmung scheitern ebenso wie Ökonomien, die nicht in der Lage sind, die materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung annähernd zu befriedigen. Aus dieser Perspektive kann die im Gegenzug zu Entwicklungsgeldern mitunter geforderte frühe Demokratisierung von Staaten durchaus Schaden anrichten. Zudem ist es bis heute eine offene Frage geblieben, wie die weniger entwickelten Staaten aus dem Teufelskreis von Überbevölkerung, Massenarbeitslosigkeit, Armut und Instabilität ausbrechen können, um auch nur in die Nähe einer hinreichenden Transformationsfähigkeit zu kommen. Das grundlegende Problem des Systemwandels - die Unfähigkeit, den Entwicklungsprozeß zielgenau zu steuern - liegt hier in seiner dramatischsten Form vor.

Die Suche nach Entwicklungs- und Transformationsstrategien bleibt kompliziert, denn jeder Entwicklungs- und Transformationsprozeß ist ein Sonderfall, sobald es um die Details geht. Ausgangsbedingungen, verfügbare Ressourcen, Akteurskonstellationen, Möglichkeiten und sogar die Entwicklungsziele variieren von Fall zu Fall erheblich. Patentrezepte zur Steuerung des Wandels würden schon deshalb versagen, weil sie die Hoffnungen und Ängste der betroffenen Menschen ebensowenig berücksichtigen könnten wie konkrete wirtschaftliche Rahmenbedingungen.

Dennoch ist die systematische Auswertung der Prozesse der vergangenen Jahre die wohl ergiebigste Quelle, um Fehler zu vermeiden und gangbare Wege zu identifizieren. Vor allem in der jüngeren Transformationsgeschichte lassen sich im Bereich von Entwicklungsperspektiven beeindruckende Erfolge finden, die auf völlig verschiedenen Pfaden erreicht worden sind: Während Südkorea und Taiwan einen Prozeß durchlaufen haben, in dem zunächst von einem autoritären Regime die Ökonomie transformiert und anschließend der politische Umbau bewältigt wurde, haben die mittel- und osteuropäischen Staaten eine "doppelte Transformation" vollzogen.

Dabei hätten die asiatischen Staaten den Weg der gleichzeitigen Transformation von Demokratie und Marktwirtschaft ebensowenig gehen können wie Polen oder die Tschechische Republik den Weg einer Entwicklungsdiktatur nach 1989. In beiden Beispielen entsprachen beide Strategien recht präzise dem, was aufgrund des Entwicklungsstandes, der politisch-kulturellen Bedingungen und der Machtverhältnisse möglich war. Die universale Frage nach dem besseren Weg ist also ebenso falsch gestellt wie die Frage der vergangenen Jahre nach dem Gegensatz zwischen Schocktherapien und graduellem Umbau in der Wirtschaftspolitik. Die Dynamik selbst einer zunächst im engen Rahmen gesteuerten Entwicklung kann zudem die ursprünglich angesteuerten Ziele stark verändern.

Die universale Frage nach dem besseren Weg ist falsch gestellt

Die Liberalisierung der Wirtschaft öffnet, wenn auch mit Verzögerung, auch die Gedankenwelt der Menschen - und schafft damit im Endeffekt neue Möglichkeiten und Bedürfnisse. Reformstrategien, die wie in China oder in Singapur die Machtfrage zunächst nicht antasten, aber zum Denken in globalen und marktwirtschaftlichen Kategorien anstiften, erscheinen so in einem anderen Licht. Es scheint angebracht, bei der Einschätzung und Unterstützung von Entwicklungsprozessen eher Ballast abzuwerfen, als zu viele Forderungen zu stellen, die den eigentlichen Prozeß komplizieren.

Aus funktionaler Sicht müssen erfolgreiche Entwicklungsstrategien dauerhaft zwei grundlegende Aufgaben erfüllen: Sie müssen einerseits die Ziele erreichen, die man sich gesteckt hat, und andererseits - unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Rahmenbedingungen und Störeinflüsse - Überforderungen vermeiden und die Handlungsfähigkeit des Systems so lange erhalten, bis die Weichen des Systemwandels aussichtsreich justiert worden sind. In der Realität sind dies alles andere als leicht erreichbare Vorgaben.

Zudem haben Transformationsprozesse bis zu ihrem Abschluß einen erheblichen Zeitbedarf. Sowohl die verfügbaren politischen und ökonomischen Ressourcen als auch der gesellschaftliche Entwicklungsstand bestimmen die mittelfristig tatsächlich erreichbaren Entwicklungsziele. Es lassen sich für die charakteristischen Phasen dieser Prozesse strategische Eckpunkte definieren, deren Verwirklichung die Voraussetzung für weitere Fortschritte bilden.

So entscheiden in einer frühen Phase der Machtsicherung und des Staatsaufbaus vor allem die Etablierung von durchsetzungsfähigen staatlichen Machtstrukturen und eines entsprechenden Verwaltungsapparates sowie die Gewährung von Sicherheit und Frieden über die weiteren Perspektiven - ökonomisch wie politisch. In Staaten, in denen die Regierungsmacht auf ein Territorium rund um die Hauptstadt beschränkt ist und die Regierung nicht über ein Mindestmaß von Führungsfähigkeit verfügt, lassen sich nur schwerlich nachhaltige entwicklungspolitische Fortschritte erreichen. Gerade in dieser Phase sind die Machtressourcen von Regierungen aber häufig so gering, daß externe Mächte neben notwendiger Not- und Katastrophenhilfe dazu beitragen müssen, entsprechende staatliche Strukturen wiederherzustellen.

In der Entwicklungsphase bilden mit ausreichender Legitimität versehene Institutionen und Herrschaftsstrukturen das Substrat der weiteren Entwicklungsfähigkeit. Aus strategischer Sicht geht es darum, die meist fragile politische Lage zu stabilisieren, Entscheidungsautonomie gegenüber mächtigen Interessengruppen zu erlangen und eine professionelle Administration aufzubauen, um im weiteren Verlauf überhaupt steuern zu können. Aus dem ökonomischen Blickwinkel umfaßt das Stabilitätserfordernis die Bekämpfung von Armut, die Gewährleistung von Rahmenbedingungen, in denen Wirtschaften überhaupt möglich wird, sowie die Investition in Humankapital durch Bildung und Ausbildung.

Die Schwierigkeit der Entwicklungsländer besteht dabei darin, daß sie zunächst eine Reihe von hartnäckigen Destabilisierungsquellen überwinden müssen, um in die Nähe der Transformationsfähigkeit zu gelangen. Zu nennen sind die klassischen Entwicklungsprobleme wie Geburtenzunahme, Massenarmut und -arbeitslosigkeit, die angespannte Ernährungssituation oder bewaffnete Konflikte um Macht und Ressourcen. Gleichzeitig sind mit dem Ausbau des Humankapitals früh dezentrale Bürgerbeteiligung und zivilgesellschaftliche Strukturen zu fördern, um den Prozeß in späteren Phasen entwicklungsfähig zu halten.

Mit zunehmendem Fortschritt in der Liberalisierungsphase spielt die Partizipation oder wenigstens die Akzeptanz der Bürger eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer Gesellschaft mit einer stabilen Balance. In dieser Phase werden Gesellschaftsmodelle gefunden und Traditionen in neue Funktionszusammenhänge eingeordnet. Politische Prioritäten liegen in der Kanalisierung der gesellschaftlichen Forderungen, im Ausbau rechtsstaatlicher Elemente oder in Maßnahmen der Dezentralisierung. Auf der ökonomischen Ebene kann der Staat bereits in dieser Phase den Grad seiner Einflußnahme auf die Wirtschaft abbauen, marktwirtschaftliche Prinzipien einsetzen und ein Umfeld für internationale Arbeitsteilung und Direktinvestitionen schaffen.

Die Wahrung von Stabilität angesichts grundlegend veränderter Machtverhältnisse ist schließlich das zentrale Problem der Transformation. Dabei geht es bei politischen Transformationen um die nachhaltige Durchsetzung demokratischer Standards sowie um die dauerhafte Mobilisierung von Akzeptanz, um den eingeschlagenen Weg trotz der damit verbundenen Härten fortsetzen und weitergestalten zu können. Einzelne Maßnahmen sind dabei der Erlaß und die tatsächliche Einhaltung einer demokratischen Verfassung, die Sicherung von Meinungspluralität und Rechtsstaatlichkeit.

Wirtschaftliche Systemwandlungen sind in dieser Phase zunächst mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung verbunden. Die Wiederherstellung makroökonomischer Stabilität sowie die Sicherung marktwirtschaftlicher Prinzipien durch eine konsistente Ordnungspolitik sind hier die elementaren Prinzipien, verbunden mit einer Fülle von entsprechenden Einzelmaßnahmen, welche die Eingliederung in das weltwirtschaftliche System ermöglichen. In den meisten Fällen kooperieren Staaten in dieser Phase eng mit anderen Staaten oder Staatengruppen. Auch beim Umbau der Ökonomie wird Außenunterstützung an Leistungskriterien gebunden. In der Konsolidierungsphase schließlich müssen die neuen Institutionen und Ordnungselemente dauerhaft verankert und gesichert werden.

Die Dynamik des Wandels führt zu einer ständigen Veränderung zentraler ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Parameter, die nicht ohne Rückwirkung auf die politische Gestaltung des Prozesses bleiben. So können die ersten Schritte und Maßnahmen jeder Transformationspolitik präzise geplant werden, während die Realisierungschancen weiterer Schritte erheblich von der Interaktion abhängen. Aus dieser Perspektive erscheint es sinnvoll, die Steuerung von Entwicklung und Transformation als Managementleistung zu betrachten, in der Einzelmaßnahmen immer wieder in Frage gestellt oder modifiziert werden können, solange die Kernziele stets im Visier bleiben.

Managementprinzipien als Orientierungshilfe für politisches Handeln

Die entscheidende Leistung der Akteure besteht darin, mit den beschränkt verfügbaren Ressourcen die Dynamik aufrechtzuerhalten und kontraproduktive Entwicklungen zu vermeiden. Die Politik verfügt in aller Regel nicht über derart umfassende Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie beispielsweise bei den Transformationen der DDR vorhanden waren, und selbst dort wurden schwere Fehler begangen. In der Konsequenz bedeutet das, daß das wichtigste Element von Entwicklungs- und Transformationsstrategien nicht in der Detailplanung von Maßnahmen liegt. Will man von vorhergehenden auf künftige Prozesse schließen, dann sind es vielmehr die fundamentalen Entscheidungs- und Managementprinzipien, die Orientierungen für politisches Handeln geben können.

Unabhängig von der Beschaffenheit eines Regimes, kann es ohne funktionierende Entscheidungsstrukturen in keiner Phase einer Entwicklung entscheidende Fortschritte geben. Daher sind Kategorien der Führungsfähigkeit sowie ein Gewaltmonopol der Ausgangspunkt jeder weiteren Überlegung und in allen Phasen des Systemwandels ein zentraler Faktor. Da Macht- und Systemerhaltung einen Teil der Ressourcen jeder Regierung erfordern, sind solche Systeme, die auf breite Unterstützung treffen, im allgemeinen erfolgreicher als andere.

Entscheidend für den Erfolg von Reformen vor allem in den späteren Phasen ist, ob sie von einem schwachen oder einem starken Staat durchgesetzt werden. Das wichtigste Merkmal eines starken Staates ist seine Legitimität. In Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung ist es klug, den Willen des Volkes (zumindest der artikulationsfähigen Eliten) zu berücksichtigen. Insbesondere in den späteren Transformationsphasen wird eine Steuerung von oben gegen den Willen der Bürger immer problematischer. Die Wirtschaftskraft ist eines der bedeutendsten Elemente der Fortentwicklung von Staaten. Von der wirtschaftlichen Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit hängt die Gestaltungsfähigkeit der Politik ab. Während Wohlstandszuwachs Defizite in anderen Bereichen zu kompensieren vermag, sind Systeme mit geringem ökonomischen Erfolg nicht nachhaltig transformierbar. Bereits erreichte Fortschritte werden durch andauernde ökonomische Krisen gefährdet. Neben wirtschaftlichem Erfolg ist aber auch ein bestimmtes Maß an Verteilungsgerechtigkeit erforderlich.

Die Wahl der richtigen Transformationsstrategie hängt nicht nur von politischen und ökonomischen Fragen, sondern auch vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand und der Interessenartikulation ab. Dabei beeinflussen sich die Fortschritte in den jeweiligen Entwicklungsdimensionen gegenseitig. Eine Modernisierung der Wirtschaft kann die politische Entwicklung beschleunigen. Hingegen begrenzen traditionelle gesellschaftliche Verhaltensweisen die Möglichkeiten des politischen Systems.

Kein politisches System entsteht in einem Vakuum. Es gewinnt an Stabilität, wenn es kulturelle und traditionelle Orientierungen und Erfahrungen aufgreift und weiterentwickelt. Eine kluge Transformationspolitik muß entsprechende Prüfkategorien berücksichtigen, zum Beispiel die Dauerhaftigkeit der politischen Institutionen, den Institutionalisierungsgrad des Systems, das Maß an Pluralismus in der Gesellschaft, die traditionellen Einstellungen zu Macht und Autorität, die Möglichkeiten einer Instrumentalisierung der Religion für Herrschaftszwecke, Wertewandel und Systemkontinuität.

Selbst das Vorhandensein einer entwicklungswilligen Regierung und deren Orientierung an schlüssigen Konzepten des Wandels vermag aber eine entscheidende Hürde selten zu überwinden: den - gerade Entwicklungsländer regelmäßig überfordernden - Mangel an Ressourcen. Insofern ist auch die Unterstützung von außen ein Schlüsselelement für die Stabilisierung und Entwicklung von Staaten. Der falsche Weg wäre jedoch, aus der strukturellen Entwicklungsunfähigkeit eines Staates zu schließen, daß Entwicklungs- und Transformationsprozesse praktisch nur von außen gesteuert werden können. Werden die Maßnahmen externer Staaten von den betroffenen Gesellschaften als kolonial, souveränitätsschädigend oder gar als feindlich angesehen, dann lassen sich meist nur punktuelle Ziele - Erzwingung einer Waffenruhe oder humanitäre Hilfe in Katastrophenfällen - erreichen. Wo Entwicklung und Transformation noch nicht stattfinden, muß das wichtigste Ziel einer Beteiligung externer Akteure darin bestehen, die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung und Transformation zu verbessern. Entwicklungsdefizite gehen in der Regel nicht vorrangig auf wirtschaftliche Probleme zurück, sondern auf gesellschaftliche Defizite - mangelnde Rationalität, starken Stellenwert von Tradition, Legitimationsschwäche. In der Konsequenz bedarf auch die Unterstützung von außen entsprechender strategischer Orientierungen.

Die externe Beeinflussung interner Fehlentwicklungen setzt Realismus voraus

Jede Form erfolgreicher externer Beteiligung an Entwicklungs- und Transformationsprozessen muß an den Ursachen der Unterentwicklung ansetzen. Interne Herrschaftsverhältnisse und Sozialstrukturen sind die entscheidenden Variablen dieses Prozesses. Die externe Politik kann derartige Fehler in engen Grenzen durch Veränderung der Entwicklungspolitik "bestrafen" und Reformschritte durch den Ausbau der Unterstützung belohnen. Mit zunehmender Entwicklung muß die Außenunterstützung über Ansätze von Not- und Katastrophenhilfe hinausgehen und systematisch angelegt werden. Über die gemeinsame Formulierung von Zielen und Zwischenzielen und über eine an Bedingungen geknüpfte Unterstützung kann damit indirekt gelenkt werden.

Außenunterstützung muß zwar antreiben - aber nur in eine Richtung, die auch tatsächlich begangen werden kann. Entwicklungspolitik muß in jedem Abschnitt die vorhandenen Interessen und Möglichkeiten eines Staates und seiner Bürger berücksichtigen. Dabei muß sie Raum für eigene Entwicklungswege lassen, ohne die Kernziele aus den Augen zu verlieren.

Externe Intervention gedeiht am besten unter der Grundbedingung eines langjährigen Vertrauensverhältnisses. Die Auswahl der Kooperationspartner bestimmt auf längere Sicht nicht selten den Spielraum der Unterstützer. Das Wissen um verläßliche internationale Unterstützung kann auf seiten innenpolitischer Akteure erheblich zu Reformwillen und Durchhaltebereitschaft beitragen. Wenn interne und externe Akteure auf der Grundlage von Vertrauen, gemeinsamen Zielen und Vorstellungen zusammenarbeiten, die überdies auf eine entsprechende Akzeptanz treffen, dann liegen wichtige Erfolgsbedingungen vor.

Außenunterstützung soll nur solche Ziele anstreben, die dem Entwicklungsstand eines Staates entsprechen und die auch tatsächlich erreichbar sind. Es hat wenig Sinn, einen Kurs anzustreben, für dessen Erfolg die Machtmittel oder die politisch-kulturelle Ausstattung noch nicht zur Verfügung stehen. Die Partner dürfen dabei nicht in Konflikte getrieben werden, die sie nicht wollen und nicht durchstehen können. Wenn die Grundvoraussetzungen für einen Systemwandel noch nicht gegeben sind, dann ist es nicht sinnvoll, von außen den Wandlungsprozeß zu forcieren. Statt derartige zum Scheitern verurteilte Versuche zu unterstützen, muß es in solchen Fällen darum gehen, die Stabilität zu wahren und zuerst die elementaren Voraussetzungen für Transformierbarkeit herzustellen. Es ist nicht sinnvoll zu versuchen, sich an vorgegebenen Wegen und Modellen zu orientieren. Vielmehr müssen die bereits vorhandenen Entwicklungspotentiale ausgebaut werden.

Die Unterstützung von Entwicklungs- und Transformationsprozessen erfordert beträchtliche Ressourcen. Deren Wirksamkeit hängt nicht zuletzt davon ab, daß die Entwicklungsbemühungen externer Unterstützer kompatibel sind. Spektakuläre Aktionen wie der Teilerlaß der Schulden von Entwicklungsländern im Rahmen eines G-8-Gipfels zum Beispiel sind nützlich, ersetzen aber kein abgestimmtes Vorgehen. Prinzipiell ist die Vielfalt der externen Akteure in der Unterstützung von Entwicklungsprozessen nützlich. Wo die betroffenen Staaten aber Unterstützer gegeneinander ausspielen können, Konditionen unterlaufen oder gegensätzliche Auflagen zu erfüllen haben, geht Effektivität verloren. Daher erfordert eine wirksame Außenunterstützung nicht nur die Koordination mit den Empfängerländern, sondern auch eine umfassende Abstimmung unter den Institutionen selbst.

Die friedliche Steuerung des Wandels wird in den kommenden Jahrzehnten eine der drängendsten globalen Herausforderungen bleiben. Sie muß unter die Prämisse gestellt werden, daß die Ausweitung der Stabilitätszonen ein wertvolles Gut ist, das allen Staaten Nutzen bringt. Die logische Konsequenz muß darin liegen, Konstellationen herzustellen, unter denen alle wichtigen Akteure das Interesse an der Forderung von Entwicklung und Wandel aufrechterhalten, um Perspektiven für langfristige Strategien zu eröffnen. Für die Bewältigung des Gesamtprozesses von Entwicklung und Transformation prägt nicht die Höhe der Unterstützungsleistungen den Erfolg, sondern Kategorien von Verläßlichkeit und Dauerhaftigkeit im Rahmen von echten Entwicklungspartnerschaften.

In Jahrzehnten praktizierter Entwicklungs- und Transformationspolitik mit all ihren Fehlern und Erfolgen ist ein Wissen erarbeitet worden, das es im Ausbau solcher Partnerschaften systematisch zu nutzen gilt. Dabei mag der von den meisten Unterstützungsorganisationen verfolgte Ansatz, in sämtlichen Entwicklungsphasen von Staaten Zivilgesellschaft, Partizipation, administrative Strukturen und Humankapital zu stärken, zwar keine schnellen und spektakulären Erfolge vorweisen können. Er enthält aber die zentrale Ausgangsprämisse jeder langfristig sinnvollen Strategie: echte Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren.


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