Hauptdefizit von Merkel ist strategische Ratlosigkeit
Politikwissenschaftler rät Kanzlerin, ihre Politik besser zu erklären - Werner Weidenfeld im Gespräch mit Jochen Fischer
26.08.2011 · Deutschlandfunk
Angela Merkel sei zwar eine "situativ sehr gute Machttechnikerin", so Professor Werner Weidenfeld, es fehle ihr aber an der Fähigkeit, Inhalte zu vermitteln. Sein Rat an die Kanzlerin sei, mehr Kraft und Zeit in Erklärungsmuster zu investieren, um die Menschen wieder zu erreichen.
Moderatorin - Bettina Klein: Er hat schon einen Paukenschlag ertönen lassen, Altkanzler Kohl mit seinem Interview in der Zeitschrift für internationale Politik. Die Kritik an der Außenpolitik Deutschlands liest sich grundsätzlich und fast vernichtend. Keine berechenbare Größe mehr sei das Land, das wäre für einen Staat wie Deutschland Besorgnis erregend. Die Reaktion der Kanzlerin lautete, jede Zeit habe ihre spezifischen Herausforderungen. Sprich: mit den alten Konzepten kommen wir nicht weiter? - Mein Kollege Jochen Fischer hat darüber mit dem Politikwissenschaftler Professor Werner Weidenfeld gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob er dieser Reaktion zustimmen würde.
Werner Weidenfeld: Ja und nein! Also im Grunde genommen haben in dieser Debatte beide recht, Kohl wie Merkel. Kohl sagt eigentlich zutreffend, dass die deutsche Außenpolitik in gewisser Hinsicht ihren Kompass verloren hat und nicht mehr so kalkulierbar ist, wie sie mal war, und Frau Merkel sagt mit recht, jede Ära hat ihre neue Herausforderung. Nur daraus muss man schon eine gewisse Summierung zusammenstellen, denn Frau Merkel hat ein anderes Talent als Herr Kohl. Herr Kohl war in diesen Fragen, die jetzt debattiert werden, gekennzeichnet, indem er in großen historischen Konstellationen dachte und darin eine Strategie verortete. Frau Merkel ist eine sehr gut situative Machttechnikerin. Das ist etwas anderes.
Jochen Fischer: Also klingt die Kritik von Kohl nicht eigentlich eher so nach altem Westdeutschland? Das hat heute auch ein CDU-Politiker gesagt. Es waren halt andere Zeiten!
Weidenfeld: Ja, es waren schon andere Zeiten. Nur die Notwendigkeiten, gewissermaßen einen strategischen Entwurf für die eigene Politik zu liefern, die sind in jeder Zeit gegeben. Und wenn sie heute einen Mitbürger fragen, nennen sie mir bitte die Strategie der Bundesregierung in der Außenpolitik, dann wird der zufälligerweise irgendwo was aufgeschnappt haben in einem bestimmten Moment, das am nächsten Tag aber schon nicht mehr gilt. Also wenn Sie einmal jetzt zum aktuellsten europapolitischen Grundsatzthema nachschlagen, Wirtschaftsregierung für Europa, was jetzt Frau Merkel sagt, dass sie die mit Herrn Sarkozy anstrebt, können Sie finden, wie häufig sie sich gegen die Wirtschaftsregierung ausgesprochen hat, und dann können Sie heute nicht finden, was sie wirklich im Detail an Kompetenzen für die Wirtschaftsregierung sich vorstellt. Also diese Art Vorbehalte haben dadurch viele, unabhängig von ihren ganz zweifellosen machttechnischen Tageserfolgen.
Fischer: Die Kanzlerin hat ja auf diese Kritik auch reagiert und hat gesagt, die deutsche Außenpolitik sei berechenbar, es gäbe ja immer noch die drei Säulen, die deutsch-amerikanische Freundschaft, die deutsch-französische Freundschaft, die Einigung Europas. Das seien weiterhin die Bestandteile der deutschen Außenpolitik. Hat sie denn da nicht recht?
Weidenfeld: In der Wahrnehmung durch die Menschen sind alle drei Bestandteile erodiert. Also das deutsch-amerikanische Verhältnis ist nicht mehr geprägt von dieser alten Vitalität früherer Jahrzehnte. Das ist natürlich ein Ausdruck einer veränderten weltpolitischen Lage. Aber ich muss mir heute die Gedanken machen, wie muss ich unter den neuen Bedingungen transatlantische Vitalität entsprechend entwickeln. Das hat niemand getan.
Parallel können Sie das Problem mit Frankreich sehen. Das sind ja immer so kleine Hakeleien, wo sie dann hoffen, dass im nächsten Gespräch man einigermaßen versöhnt wieder auseinandergeht. Also Sie finden das immer, auch wenn Sie schauen, wie irritiert viele Menschen angesichts der dramatischen Herausforderungen der europäischen Einigung heute sind. Da wird ja eigentlich kaum von der Europapolitik - und das trifft nicht nur auf die Bundesregierung zu, sondern andere Länder ja genauso und die EU insgesamt ja auch -, da wird ja kaum von der Europapolitik eine wirkliche große Deutung der Lage gegeben und eine Erklärung der Lage. Das ist heutzutage das Hauptdefizit, diese Art strategische Ratlosigkeit, die sich übersetzt in Verwirrtheit der Mitmenschen, die deshalb nicht mehr so genau wissen, wofür sie eintreten sollen.
Fischer: Also es scheint so, als ob sich was zusammenbraut. Der Bundestagspräsident hat sich zu Wort gemeldet, will mehr Mitspracherecht, der Bundespräsident kritisiert die EZB und auch die deutsche Politik. Also es braut sich was zusammen gegen Angela Merkel. Wie kommt sie da heraus? Muss sie das aussitzen, kann sie das aussitzen wie ihr berühmter Vorvorgänger?
Weidenfeld: Also aussitzen bedeutet ja bei beiden, ein Gespür für Timing zu haben. Da sehe ich überhaupt nichts Negatives. Sie müssen in der Politik wirklich ein Fingerspitzengefühl dafür haben, in welchem Moment sie was wie anbieten müssen. Das verbindet die beiden. Aber was sie bei den heutigen Anforderungen bieten müssen ist dieser große Erklärungs- und Interpretationsentwurf, und das ist die Schwäche von Frau Merkel. Und insofern, wenn man ihr heute einen Rat geben müsste, dann müsste man ihr sagen, investieren Sie sehr viel mehr Kraft und Zeit und gedanklichen Aufwand in diese Art von Erklärungsmuster, nur dann werden Sie die Menschen auch wieder packen in Ihrem Orientierungswissen, das Sie anbieten. Sie können ja im Moment sehen, da müssen sie gar nicht zu tief in die Demoskopie einsteigen, dass viele Menschen sich doch irritiert auch zurückziehen. Aber sie hat durchaus die Chance, mit strategischen Angeboten auch zu gewinnen.
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