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„Die zügige Umsetzung war richtig“

Werner Weidenfeld: Der Münchener Politikforscher zieht ein Resümee zu 20 Jahren Deutsche Einheit

München. Zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit führte unser Mitarbeiter Ralf Müller ein Interview mit dem Politikforscher Werner Weidenfeld.

02.10.2010 · Main-Netz



Herr Professor Weidenfeld, kann man 20 Jahre nach der Deutschen Einheit die Frage beantworten, ob die Wiedervereinigung gelungen ist oder eher nicht? Was würden Sie sagen?

Es gibt keine Pauschalantwort auf alles. Weder stimmt das Klischee, die Einheit sei vollendet. Auch das Klischee, die Mauer in den Köpfen bestehe weiter, ist unzutreffend. Deshalb kann man keine Feier zu einer Pseudo-Einheit veranstalten noch erleben wir die schlichte Fortsetzung der Spaltung Deutschlands. Beides stimmt nicht.

Und was stimmt?

Die Einheit ist weiter als von vielen angenommen. Es hat eine kleine Völkerwanderung nach der Deutschen Einheit gegeben. Rund drei Millionen Ostdeutsche sind nach Westen gezogen und eine Million Westdeutsche nach Osten. Deutschland ist ein Stück östlicher und protestantischer geworden. Vorher war es stärker südlich und katholisch akzentuiert. Es gibt Abschwächungen früher bestehender Ost-West-Kontraste, zum Beispiel im Umweltschutz, in der Frage politische Partizipation und bei der Religiosität, bei der sich der Westen stärker dem Osten angepasst hat. Auch bei den Geburten-, Heirats- und Scheidungszahlen sind die Kontraste abgeschwächt worden. Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck sagt, die Einheit war kein Zusammenschluss, sondern eine Übernahme.

Rührt daher ein kollektiver ostdeutscher Minderwertigkeitskomplex?

Platzecks Ausruf kann man sich nur im Lichte seiner aktuellen sozialdemokratischen Erfahrung erklären. Die Deutsche Einheit ist natürlich eine ganz tiefe Zäsur im Leben der Menschen gewesen. Es war eine gesamteuropäische Einigung möglich, ein weltpolitisches Ereignis. Der deutsche Einigungsprozess hat nicht nur komplett die politische Systemlage erfasst, für die Ostdeutschen wurde die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturlage völlig verändert. Der Antrieb dafür war nicht eine Übernahme durch den Westen, sondern die Sehnsucht nach Freiheit im Osten. Der Westen hat einen Magnetismus ausgeübt.

War es nicht auch vielfach der Wunsch, die sozialistische Wärmestube mit den Annehmlichkeiten des Westens zu verbinden?

Die dramatische Veränderung, die alles erfasst hat, hat natürlich auch unglaubliche Anforderungen an die Menschen gestellt. Das haben sie nicht am 9. November 1989 und auch nicht am 3. Oktober 1990 erfahren. Wenn solche dramatischen Veränderungen stattfinden, kompensiert man dies, indem man an etwas Altem festhalten will. Das kann man in allen Ländern rund um den Erdball beobachten.

Hat man bei der Deutschen Einheit im Großen und Ganzen richtig gehandelt oder gab es gravierende Fehler?

Sowohl als auch. Man hat den Prozess richtig gestaltet. Wenn man sich den Zeithorizont der damals Agierenden vor Augen führt, dann mussten sie sehr zügig zugreifen. Es gab ein Zeitfenster. Hätte man es verpasst, wäre Gorbatschow in Moskau abgesetzt gewesen und man hätte vor weltpolitisch schier unüberwindbaren Hindernissen gestanden. Die zügige Umsetzung war absolut richtig. Es gab auch den großen Drang der Menschen nach Freiheit. Dem nachzugeben - selbst mit einer Umtauschrate von Ostmark zu D-Mark im Verhältnis eins zu eins - war psychologisch richtig.

Und wo sehen Sie die schweren Fehler?

Historisch distanziert sieht man: Einiges hätte man ganz anders machen können. Es fängt mit der Umtauschrate von Ost- in D-Mark an. Die Ost-Mark war natürlich völlig überbewertet. Steuerpolitisch hätte man Ostdeutschland attraktiver ausgestalten und damit eine unglaubliche wirtschaftliche Dynamik auslösen können. Stattdessen wurden viele Milliarden Westgelder nach Ostdeutschland transferiert und damit in die Infrastruktur investiert. In neue ökonomische Dynamik wurden die Milliarden nicht investiert. Die ökonomische Leistungsfähigkeit der DDR wurde fehleingeschätzt. Hunderte von Milliarden musste die Bundesregierung zahlen, damit überhaupt ein Minimum erhalten werden konnte.

Wenn Sie als weltweit tätiger Politikberater von den Regierenden in Berlin gefragt werden, was sie tun können, um die Deutsche Einheit wirklich zu vollenden, was würden Sie raten?

Man muss die Identität der Deutschen thematisieren. Die Klischee-Überbleibsel von der Mauer in den Köpfen können nur überwunden werden, wenn Sie sich über die Zukunft von uns Deutschen Gedanken machen. Wenn Sie über die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nachdenken, dann ist das eine gesamtdeutsche Herausforderung. Die gesamtdeutsche Identität in den verschiedensten Problemfacetten zu artikulieren, verändert das Bewusstsein. Wenn Sie aber immer nur immer die Kontraste aufrufen, überwinden Sie die Restbestandteile von Spaltungsklischees nicht.

Wenn es nicht mehr um Geld geht, könnte man doch den Soli abschaffen, oder?

Nein, denn dann haben Sie ja sofort wieder diese Kontroverse. Sie müssen den Gedanken des Solidaritätsbeitrags mittelfristig in ein Konzept gesamtdeutscher Solidarität übertragen. Ich würde als Spitzenpolitiker nicht zur Abschaffung eines Solidaritätsbeitrags aufrufen, sondern eine gesamtdeutsche Solidaritätsperspektive entwickeln. Derzeit wird überall zur Solidarität aufgerufen. Wieso soll ein Armer in der Nähe von München besser dran sein als ein Armer in der Nähe von Chemnitz?


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