C·A·P Home > Aktuell > Interviews > 2010 > Wir sind protestantischer geworden

Wir sind protestantischer geworden

Interview mit Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld zu 20 Jahre Einheit

03.10.2010 · Nürnberger Zeitung



NÜRNBERG  - Es ist zusammengewachsen, was zusammengehört – doch ist dem wirklich so? Die NZ sprach mit dem Münchener Politikforscher und Politikberater Prof. Werner Weidenfeld über 20 Jahre Deutsche Einheit.

NZ: Kann man 20 Jahre nach der Deutschen Einheit die Frage beantworten, ob die Wiedervereinigung gelungen ist oder eher nicht?

Weidenfeld: Es gibt keine Pauschalantwort. Weder stimmt das Klischee, die Einheit sei vollendet. Auch das Klischee, die Mauer in den Köpfen bestehe weiter, ist unzutreffend; noch erleben wir die Fortsetzung der Spaltung. Beides stimmt nicht.

NZ: Und was stimmt?

Weidenfeld: Die Einheit ist weiter als von vielen angenommen. Es hat eine kleine Völkerwanderung nach der Deutschen Einheit gegeben. Rund drei Millionen Ostdeutsche sind nach Westen gezogen und eine Million Westdeutsche nach Osten. Deutschland ist ein Stück östlicher und protestantischer geworden. Vorher war es stärker südlich und katholisch akzentuiert. Es gibt Abschwächungen früher bestehender Ost-West-Kontraste, zum Beispiel im Umweltschutz, in der Frage politische Partizipation und bei der Religiosität, bei der sich der Westen stärker dem Osten angepasst hat. Auch bei den Geburten-, Heirats- und Scheidungszahlen sind die Kontraste abgeschwächt worden.

NZ: Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck sagt, die Einheit war kein Zusammenschluss, sondern eine Übernahme. Rührt daher ein kollektiver ostdeutscher Minderwertigkeitskomplex?

Weidenfeld: Platzecks Ausruf kann man sich nur im Lichte seiner aktuellen sozialdemokratischen Erfahrung erklären. Die Deutsche Einheit ist natürlich eine ganz tiefe Zäsur im Leben der Menschen gewesen. Es war eine gesamteuropäische Einigung möglich, ein weltpolitisches Ereignis. Der deutsche Einigungsprozess hat nicht nur komplett die politische Systemlage erfasst, für die Ostdeutschen wurden die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturlage völlig verändert. Der Antrieb dafür war nicht eine Übernahme durch den Westen, sondern die Sehnsucht nach Freiheit im Osten. Der Westen hat einen Magnetismus ausgeübt.

NZ: War es nicht auch vielfach der Wunsch, die sozialistische Wärmestube mit den Annehmlichkeiten des Westens zu verbinden?

Weidenfeld: Die dramatische Veränderung, die alles erfasst hat, hat natürlich auch unglaubliche Anforderungen an die Menschen gestellt. Das haben sie nicht am 9. November 1989 und auch nicht am 3. Oktober 1990 erfahren. Wenn solche dramatischen Veränderungen stattfinden, kompensiert man dies, indem man an etwas Altem festhalten will. Das kann man in allen Ländern rund um den Erdball beobachten.

NZ: Hat man bei der Deutschen Einheit richtig gehandelt oder gab es gravierende Fehler?

Weidenfeld: Sowohl als auch. Man hat den Prozess richtig gestaltet. Wenn man sich den Zeithorizont der damals Agierenden vor Augen führt, dann mussten sie sehr zügig zugreifen. Es gab ein Zeitfenster. Hätte man es verpasst, wäre Gorbatschow in Moskau abgesetzt gewesen und man hätte vor weltpolitisch schier unüberwindbaren Hindernissen gestanden. Die zügige Umsetzung war absolut richtig. Es gab auch den großen Drang der Menschen nach Freiheit. Dem nachzugeben – selbst mit einer Umtauschrate von Ostmark zu D-Mark im Verhältnis eins zu eins – war psychologisch richtig.

NZ: Wo sehen Sie schwere Fehler?

Weidenfeld: Historisch distanziert sieht man: Einiges hätte man ganz anders machen können. Es fängt an mit der Umtauschrate Ost- und D-Mark. Die Ostmark war natürlich völlig überbewertet. Steuerpolitisch hätte man Ostdeutschland attraktiver ausgestalten und damit eine unglaubliche wirtschaftliche Dynamik auslösen können. Stattdessen wurden viele Milliarden Westgelder nach Ostdeutschland transferiert und damit in die Infrastruktur investiert. In neue ökonomische Dynamik wurden die Milliarden nicht investiert. Die ökonomische Leistungsfähigkeit der DDR wurde fehleingeschätzt. Hunderte von Milliarden musste die Bundesregierung zahlen, damit überhaupt ein Minimum erhalten werden konnte.

NZ: Wenn Sie von den Regierenden gefragt werden, was sie tun können, um die Einheit zu vollenden, was würden Sie raten?

Weidenfeld: Man muss die Identität der Deutschen thematisieren. Wenn Sie zum Beispiel über die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nachdenken, dann ist das eine gesamtdeutsche Herausforderung. Die gesamtdeutsche Identität in den verschiedensten Problemfacetten zu artikulieren, verändert das Bewusstsein.


News zum Thema


Deutsche Kontraste
Dr. Manuela Glaab und Dr. Michael Weigl im C·A·P-Forschungskolloquium
16.07.2012 · C·A·P

Buchpräsentation „Deutsche Kontraste 1990-2010“
Veranstaltung im Münchner Maximilianeum in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
28.10.2010 · Forschungsgruppe Deutschland

Deutsche Kontraste 1990 – 2010
Rezension des Bandes von Manuela Glaab, Werner Weidenfeld und Michael Weigl
20.10.2010 · Exlibris

Deutsche Kontraste 1990-2010
Konzeptband zur Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland
20.10.2010 · Forschungsgruppe Deutschland