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Ein Zwergstaat am Tropf der EU - Kosovo nach seiner Unabhängigkeit

Interview mit Dominik Tolksdorf

04.05.2009 · domradio.de



Seit gut einem Jahr versucht die südserbische Provinz sich als eigenständiger Staat zu behaupten. Nach wie vor ist die Unabhängigkeit des Kosovo völkerrechtlich umstritten und der Zwergenstaat hängt am finanziellen Tropf der EU. Doch die Kosovaren versuchen trotz Armut und Arbeitslosigkeit ihren neuen Status zu verteidigen. Wohin steuert Kosovo nach der Unabhängigkeit und wie kann die brachliegende Wirtschaft trotz internationaler Finanzkrise wieder auf die Beine kommen? Diese Fragen diskutierten Völkerrechtler, Journalisten und Kenner der Region in der Sendung "Weltweit" im Domradio. Dominik Tolksdorf äußerte sich zur Frage, ob die Unabhängigkeit gegen Völkerrecht steht.

Moderation: Stephanie Gebert


1.) Serbien verweigert dem Kosovo weiterhin die Zustimmung zur Unabhängigkeit und eine einseitig erklärte Grenzziehung widerspricht dem Völkerrecht. Steht die Unabhängigkeit des Kosovo auf tönernen Füßen? 

Tolksdorf: Die Diskussion um die völkerrechtliche Frage besteht schon seit vielen Jahren und wird auch weiter fortgesetzt werden. Sehr wahrscheinlich aber wird man in der internationalen Politik zumindest rhetorisch irgendwann mit der Tatsache umgehen lernen, dass Kosovo als Staat besteht, so wie man heute beispielsweise auch eher von Mazedonien spricht als von "Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien". Es wird aber immer auch Staaten geben, die diese Tatsachen nicht anerkennen, sodass die Diskussion irgendwann skurril anmutet, wie man heute Griechenland im Namenstreit eher belächelt als dass man die Frage auf internationaler Ebene tatsächlich als großes Problem anerkennt. Ich möchte aber nicht beide Fälle – Kosovo und Mazedonien – miteinander vergleichen, es geht nur darum: Irgendwann wird jede Tatsache auch anerkannt. Kosovo kann also auf den Faktor Zeit zählen.

2.) Serbien hat erst Mitte April seine Argumente gegen die Unabhängigkeit dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt. Mit welchem Ziel? Rückgängig gemacht wird die Unabhängigkeit wohl nicht? 

Tolksdorf: Auf jeden Fall wird die Unabhängigkeit nicht rückgängig gemacht, das würden weder Kosovo-Albaner noch die 58 Staaten, die den Staat bereits anerkannt haben, nicht zulassen. Aber die serbische Regierung möchte die Frage der Legalität natürlich weiter verfolgen, und nicht nur sie alleine: Auch viele Staaten, die sich gegen die Unabhängigkeit gestellt haben, geht es darum, dass sie in ihrer Positionierung Unterstützung durch ein international anerkanntes Gremiums erhalten. Sollte das Gutachten des Gerichtshofs die Entscheidung der Unabhängigkeit als nicht rechtmäßig bezeichnen, würde das natürlich bedeuten, dass es danach für die Kosovo-Albaner nicht leicht wird, weitere Staaten von der Anerkennung ihres Landes zu überzeugen. Denn das Gutachten soll den noch unentschlossenen Staaten Orientierung geben. Allerdings: Das Gutachten ist für niemanden bindend. Es könnte aber damit den Gegnern der Unabhängigkeit eine nicht unbedeutende "rhetorische Waffe" zukommen: Russland, China und andere werden künftig in internationalen Verhandlungsrunden auf diese aus ihrer Sicht unrechtmäßige Entwicklung hinweisen, so wie sich der Westen gerne auf das Massaker von Tian'anmen oder ähnliches beruft. Jetzt hat man auf Seiten Moskaus und Peking endlich ein stichhaltiges Beispiel dafür, dass der "Westen" die Welt sowieso ohne Rücksicht auf andere Interessen nach seinen Regeln gestaltet. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass der Gerichtshof eine klare Position beziehen wird, da die Positionen von sehr vielen Parteien – Befürworter und Gegner – in dem Entstehungsprozess beachtet werden.

3.) Nach langwierigen Verhandlungen mit der Uno und der EU schien eh alles auf eine Loslösung hinauszulaufen. Dennoch: Ist die Unabhängigkeit der südserbischen Provinz vielleicht zu früh erklärt worden?  

Tolksdorf: Für diese Entscheidung gab es sicherlich keinen richtigen Zeitpunkt. Auf Seiten der unterstützenden Staaten hat man argumentiert, dass man die Kosovo-Albaner nicht länger hätte hinhalten können und verwies dabei auf die Sicherheitslage. Ich denke dass das tatsächliche Problem darin bestand, dass man sich schon 1999 auf einen recht klaren Weg begeben hat, nämlich den schrittweisen Aufbau eines Staates, auch wenn das keine offizielle Position war. Hiermit hat man auf Seiten der Kosovo-Albaner Hoffnungen geweckt, die man nicht ewig ignorieren konnte. Zwischenzeitlich hat sich die internationale Gemeinschaft an einer Verzögerungstaktik versucht, indem sie die Verwirklichung bestimmter Standards in Kosovo verlangt hat, bevor sie sich auf eine Statusdiskussion einlassen wollte. Diese "Standards before Status"-Strategie wurde aber nach den März-Unruhen 2004 aufgegeben, weil sie nicht länger realisierbar erschien.  

4.) Jetzt sind die von Kosovo aufgebauten Staatsgewalt wie Polizei und Justiz im Aufbau. Wie lange muss man dem Land noch Zeit geben, bevor man von einer vollständigen Eigenständigkeit sprechen kann? 

Tolksdorf: Eine vollständige Eigenständigkeit ist nicht absehbar, daran hätten auch die die Unabhängigkeit unterstützenden Staaten vorerst kein Interesse. Denn diese möchten erst sicherstellen, dass der Staat auch wirklich verantwortlich handelt und zum Beispiel Probleme wie organisierte Kriminalität angeht, von dessen Folgen sie ja mittelbar selbst betroffen sind. Nach ihren eigenen Vorstellungen, wie sie zum Beispiel im Ahtisaari-Plan niedergelegt sind, müssten diese Staaten auch darauf Wert legen, dass alle Minderheiten im Staat angemessen berücksichtigt werden. Man kann den Kosovo-Albanern gar nicht zu Last legen, dass sie das nicht versuchen würden. Alle staatlichen Institutionen sehen ja eine Beteiligung von Serben und anderen Minderheiten vor. Die kosovarische Regierung geht in dieser Hinsicht sicherlich auf die Forderungen der Internationalen ein. Problematisch ist nur, dass die Serben in vielen Fällen eine Beteiligung verweigern, da sie damit den Staat anerkennen würden. Im Nordteil des Kosovo ist diese Diskussion sowieso irrelevant, da sich dort die serbischen Parallelstrukturen längst verfestigt haben.

5.) Und was erwarten Sie: Wie wird es international weitergehen? Wird der Status des Kosovo am Ende weltweit anerkannt? 

Tolksdorf: Nein, es gibt einfach zu viele Staaten, denen solch eine Entscheidung zu gefährlich wäre, und das aus unterschiedlichen Gründen. Zuerst befürchten viele Staaten, dass solch eine Entscheidung Minderheiten innerhalb ihrer eigenen Grenzen dazu verleiten könnte, eigene Selbstständigkeit zu verlangen. Solch ein Prozess führt zwangsweise zu stärkeren Autonomierechten, an denen viele Regierungen nicht interessiert sind. Daneben spielen historische Solidaritäten zwischen zwei Staaten teilweise keine unwichtige Rolle. Eine vollständige Anerkennung ist also sehr unrealistisch. Es gibt aber Gebiete auf der Welt, die auch nach vielen Jahren der de facto-Unabhängigkeit noch immer nicht Mitglieder verschiedener internationaler Organisationen sind, zum Beispiel Taiwan. Eine ähnliche Konstellation könnte sich in Bezug auf Kosovo ergeben. Spannend wird es übrigens, wenn es zukünftig um die Frage der Mitgliedschaft von Kosovo in der EU geht. Denn jeder neue Mitgliedsstaat muss von allen EU-Mitgliedern anerkannt werden. Die EU wird viel Kreativität entwickeln müssen, um zukünftig mit dieser Problematik umzugehen.


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