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Spannungsfelder deutsch-tschechischer Nachbarschaft

Studientag der Forschungsgruppe Deutschland

Gegenseitige Wahrnehmung und grenzüberschreitende Praxis: Spannungsfelder deutsch-tschechischer Nachbarschaft

Studientag der Forschungsgruppe Deutschland am 3. Februar 2005, gefördert durch die Münchener Universitätsgesellschaft.

28.02.2005 · Forschungsgruppe Deutschland



Um die deutsch-tschechische Nachbarschaft ist es in jüngster Zeit immer ruhiger geworden. Dies kann positiv gedeutet werden dahingehend, dass Unaufgeregtheit auch die Abwesenheit gravierender Spannungen bedeutet. Ein Tiefenblick auf die bilateralen Beziehungen jedoch macht rasch deutlich, dass das bilaterale Verhältnisse noch von vielen Gräben durchzogen ist. Die politische Spitze betont zwar wie Bundeskanzler Gerhard Schröder die Notwendigkeit einer Aussöhnung Deutschlands mit seinen mittel- und osteuropäischen Nachbarn, fügt jedoch hinzu, dass dies "in besonderem Maße" für Polen gelte (so anlässlich der Verleihung des Marion Dönhoff-Preises 2004 an Gesine Schwan am 28. November in Hamburg). Die Tschechische Republik scheint zunehmend zum "Nachbarn ohne Gesicht" zu werden, dem Politik wie Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit entziehen. In der deutschen Bevölkerung wiederum spiegelt sich dieser Befund in einem zunehmenden Desinteresse am Nachbarstaat wider, und dies nicht nur im Zentrum Deutschlands, sondern auch in seiner an Tschechien angrenzenden Peripherie.


Zentrum und Peripherie liegen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet oftmals nicht so weit voneinander entfernt.

Der Gruppe derjenigen, die Böhmen bzw. Bayern mit Teilnahms- und Regungslosigkeit begegnen, sind in den bayerisch-böhmischen Grenzregionen bereits eine Vielzahl von Bürgern zuzurechnen, wie Michael Weigl (C·A·P) und LukᚠNovotný (Technische Universität Chemnitz / Soziologisches Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften in ihrem Vortrag zu der Bedeutung des "Anderen" für regionale Identitätskonstrukte im bayerisch-böhmischen Grenzraum herausarbeiteten. Gleichfalls nur bedingt am grenzüberschreitenden Dialog nimmt ferner die größte Gruppe der Bevölkerung teil, die dem jeweiligen "Anderen" in ambivalenter Distanz gegenübersteht. Für Vertreter beider Handlungsorientierungen – "Regungslosigkeit" wie "Distanzierung" - gilt gleichermaßen, dass sie ihre raumbezogenen Identitäten häufig auch ohne das Wissen und die Herausarbeitung lokaler wie regionaler historischer Traditionsstränge konstruieren. Die Handlungsorientierungen "Abwehr" und "Entgegenkommen" gegenüber dem "Anderen" sind dagegen sowohl in Bayern wie auch in Böhmen eng mit Ausprägungen des regionalen und lokalen Geschichtsbewusstseins verknüpft. Für Bayern deutet sich an, dass der Nachbar umso positiver in der eigenen Identität eingebettet ist – beispielsweise durch den Verweis auf Bayern wie Böhmen verbindende Handelswege des Mittelalters -, je stärker das regionale Geschichtsbewusstsein in Verbindung mit einem Europabewusstsein ausgeprägt ist. In Tschechien hingegen scheint von Bedeutung, wie sehr Geschichtsbewusstseinskonstruktionen weiterhin in der kommunistischen Propaganda des Kalten Krieges verhaftet sind und damit auch deutsche Traditionslinien des Grenzraumes einbinden oder ausblenden.

Dass sich in den Handlungsorientierungen "Abwehr" und "Entgegenkommen" nur eine Minderheit der Bürger beiderseits der Grenze wieder findet, die Mehrheit hingegen kein Interesse am Nachbarn hegt, verdeutlichte auch eine von Melanie Hoffarth (Technische Universität Kaiserslautern) vorgestellte Studie zu den Beziehungen zwischen den Grenzorten Philippsreut und Strážný. Die Frage, ob es sich beim ländlichen Grenzraum bereits um einen Verflechtungsraum handle, verneinte sie nachdrücklich. Interaktionen zwischen den Gemeinden bestehen zu heutigen Zeitpunkt kaum, beide Seiten glänzen durch eine Unkenntnis über den jeweiligen anderen Ort, die auf ein mangelndes Interesse am Nachbarn schließen jedoch Deutsche vorwiegend das billige Angebot der Vietnamesenmärkte in Strážný nutzen, Tschechen hingegen Philippsreut aufgrund seiner mangelnder Infrastruktur zumeist links liegen lassen, kommt es selbst in dieser Hinsicht kaum zu rudimentären Kontakten. Die Sprachbarriere sowie die als unterschiedlich aufgefasste Identität hemmen die Interaktionen außerdem. Um dies zu ändern und langfristig tatsächlich einen Verflechtungsraum zu etablieren, genügen nach Hoffarth Kooperationen nur aus Notwendigkeiten und Handlungszwängen nicht. Vielmehr müsse im gegenseitigen Kennen lernen das Interesse am anderen geweckt und zugleich ein kreatives Potential der Interaktion gefördert werden.

Dass mangelndes Interesse am "Anderen" die grenzüberschreitende Praxis belastet, untermauerte auch die Unternehmensberaterin Marketa Hahn (Base Consult GmbH München). Oftmals sei in der Wirtschaft zu beobachten, dass deutsche Führungskräfte nach Tschechien kämen und diese Auslandserfahrung als Karrieresprung interpretierten, sich aber in keiner Weise mit dem auseinandergesetzt hätten, was sie im Nachbarland erwartet. Tschechische Mentalität und tschechische Befindlichkeiten seien ihnen fremd, weshalb das Auftreten der deutschen Protagonisten bei Tschechen häufig ein Gefühl von Geringschätzung auslöse. Initiativen zur frühzeitigen interkulturellen Kompetenzausbildung, wie sie auch die Akademie Führung & Kompetenz des Centrums für angewandte Politikforschung anbietet, unterstützte Hahn nachdrücklich. Im deutsch-tschechischen Kontext müsste dabei unter anderem deutlich gemacht werden, dass die straffen Regeln, welche für deutsche Unternehmen üblich sind, nicht mit dem tschechischen Ideal des freien Unternehmertums harmonieren. Ebenso entspräche eine von deutschen Unternehmen geförderte und eingeforderte Corporate Identity mit dem Haus nicht dem postkommunistischen Individualismus-Anspruch der Tschechen. Sollte der traditionelle tschechische Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Deutschen nicht noch verstärkt werden, sei es deshalb für deutsche Unternehmen dringend geboten, im Nachbarland nicht im Selbstbewusstsein des deutschen Wirtschaftswunders mit breiter Brust aufzutreten, sondern stattdessen aufnahmebereit zu sein für das Neue, was sie erwartet.

Kristallisationspunkt und Eruption tschechischer Mentalität wie Identität stellte die "samtene Revolution" im Jahr 1989 dar. Auf den Straßen verhalfen die Menschen ihrem Ideal der Freiheit zum Recht, indem sie die Fesseln der unterdrückten Meinungsfreiheit lösten. Nicht zuletzt bedienten sie sich dabei nach Claudia Beier (Ludwig-Maximilians-Universität München) der Sprache und belegten damit die Worte Christa Wolfs, wonach jede revolutionäre Bewegung auch die Sprache befreie. Die Parolen der Demonstranten des Herbst 1989 hätten mit Witz statt Aggression eine 40 Jahre lang vom Regime gebändigte Sprache konterkariert und ein Wir-Gefühl unter den Demonstranten geschaffen, indem sie um die Werte und Forderungen Freiheit, Pluralismus und Demokratie kreisten. Spätestens mit dem Eingang der Sprache der einfachen Bevölkerung in den öffentlichen Sprachgebrauch und ihre Verbreitung durch die Medien sei die Unumstößlichkeit der politischen Veränderungen besiegelt gewesen. Die zuvor von der Politik missbrauchte Sprache sei im Herbst 1989 vom Volk "zurückerobert" worden und befinde sich seitdem in einem Prozess der Destandardisierung, der gleichfalls die Annäherung an den Westen – beispielsweise durch die Integration zahlreicher Anglizismen – zum Ausdruck bringe. Dass Sprache aber auch im postkommunistischen Tschechien – wie in allen anderen Staaten – nicht vor Missbrauch gefeit ist, offenbaren rhetorische "Spitzen" wie die des ehemaligen Ministerpräsidenten Miloš Zeman, der die Sudetendeutschen als "fünfte Kolonie Hitlers" bezeichnete.

Zemans Aussagen belasteten die deutsch-tschechischen Beziehungen schwer und führten 2002 sogar zur Absage eines Prag-Besuches von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dennoch könnten, so Birgit Vierling (Universität Regensburg) in einem Überblick zu den Nachbarschaftsbeziehungen zwischen 1998 und 2002, die Beziehungen inzwischen als relativ unproblematisch charakterisiert und als "normalisiert" bezeichnet werden. Zwar habe es gerade in den Themenfeldern "sudetendeutsches Problem", Temelin und im Umfeld des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union Irritationen gegeben, die jedoch inzwischen auf Ebene der politischen Spitze in Berlin und Prag weitgehend ausgeräumt seien. Der – nachgeholte – Besuch Schröders in Prag im September 1989 könne hierfür als Beispiel gelten. Noch ist dieses "neue" deutsch-tschechische Nachbarschaftsverhältnis nicht nachhaltig gefestigt, wie Debatten um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" oder auch fortlebende Spannungen zwischen München und Prag belegen. Sowohl Deutschland wie Tschechien hätten jedoch zum Ausdruck gebracht, dass sie die Beziehungen nicht mehr mit Geschichte belastet sehen wollten; ein pragmatischer Vorsatz, der kulturelle Prägungen der Nachbarschaft weitgehend auszublenden versucht.

Nach der "samtenen Revolution" fand sich Tschechien (Tschechoslowakei) in einem grenzenlosen Europa wider, das einerseits die – inzwischen verwirklichte - Chance auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union eröffnete, andererseits aber auch Raum eröffnete für die Widerbelebung historischer Selbstverständnisse bezüglich des Verhältnisses zu seinem deutschen Nachbarn wie zu Europa. Anne Sophie Krossa (Universität Göttingen) machte darauf aufmerksam, dass beispielsweise im Denken von František Palacký (1798-1876) die tschechische Geschichte als Geschichte einer Nation gelte, die europäische Geschichte oft geprägt, aber häufig durch seine mächtige Nachbarn wie Deutschland blockiert worden sei. Ist dieses Deutungsschemata auch mehr als eineinhalb Jahrhunderte alt, werde es in gegenwärtigen Situationen und politischen Konstellationen doch als mit aktuellen "Fakten" belegbar wahrgenommen. Die so entstehenden kausalen Interpretationskreisläufe bewirkten entsprechend verfestigende Perzeptionswirkungen. So stelle Deutschland im aktuellen Kontext des tschechischen EU-Beitritts einen wichtigen Grund der tschechischen EU-Skepsis dar. Die Sorge vor einem deutschen Ausnutzen seiner starken Position münde in der Frage, ob Deutschland auf Kosten des relativ kleinen Nachbarn abermals eine mitteleuropäische Dominanzposition anstrebe. Deutschland bleibt in dieser Interpretation wie schon bei Palacký in Exklusion konstruierter "Anderer" nationaler tschechischer Identität.

Nationale, regionale und mikroregionale (lokale) Identitätskonstrukte sind, so verdeutlichte der Studientag, für die gegenseitige Wahrnehmung und die grenzüberschreitende Praxis von Deutschen und Tschechen bis zum heutigen Tag von großer Bedeutung. Besonderes Gewicht kommt dabei dem Geschichtsbewusstsein zu, das aber keinesfalls nur aus dem Zeitraum seit dem Nationalsozialismus schöpft. Vielmehr entfalten Traditionsstränge wie das Nationenverständnis Palackýs oder die mittelalterlichen Handelsbeziehungen bis heute ihre Wirkung. Sie können Chance wie Last der gegenseitigen Wahrnehmung sein. Soll das Projekt der "guten Nachbarschaft" zwischen Deutschen und Tschechen jedoch einmal zum Ziel gelangen, ist die konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen, welche nach Interesse am "Anderen" verlangt, unabdingbar.

Referenten

Dr. Michael Weigl, Centrum für angewandte Politikforschung / Lukaš Novotný, Technische Universität Chemnitz:
Fremd- und Selbstbilder: Die Bedeutung des "Anderen" für regionale Identitätskonstrukte im bayerisch-böhmischen Grenzraum

Melanie Hoffarth, Technische Universität Kaiserslautern:
Der ländliche Grenzraum als Verflechtungsraum? Chancen und Risiken für eine nachhaltige Entwicklung vom Kommunen entlang der bayerisch-tschechischen Grenze

Marketa Hahn, Base Consult GmbH München:
Geschichte, Politik, Gesellschaft: Variablen der deutsch-tschechischen Wirtschaftspraxis

Claudia Beier, Ludwig-Maximilians-Universität München:
"Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache." Die gegenseitige Bedingung von Sprache und Politik in der "samtenen Revolution"

Birgit Vierling, Universität Regensburg:
Pragmatisch und belastet: Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der tschechischen Republik 1998-2002

Anne Sophie Krossa, Universität Göttingen:
Historische und aktuelle Wahrnehmungen: Deutschlands Rolle im Kontext der tschechischen EU-Integration


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