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Den Stier bei den Hörnern gepackt?

Definition, Werte und Ziele der Europäischen Union im Verfassungsprozess

Dieser Beitrag ist Teil des Buches Die Europäische Verfassung in der Analyse, das in Kürze im Verlag Bertelsmann Stiftung erscheinen wird. Das Buch ist im Rahmen des Projektes Das Größere Europa entstanden, das die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am Centrum für angewandte Politikforschung in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung durchführt.

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14.01.2005 · Position von Almut Metz



Der Europäischen Union (EU) fehlt bis heute eine klare politische Identität. Lange wurde den Bürgern die Europäische Integration primär als ein wirtschaftliches Unterfangen vermittelt. Die Europäische Union ist jedoch weit mehr. Sie besitzt heute in vielerlei Hinsicht Staatsqualität. Nicht zuletzt aufgrund dieses Missverständnisses ist die Kluft zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern in den letzten Jahrzehnten weiter gewachsen.

Deshalb war es notwendig, einen Verfassungsprozess in Gang zu setzen, der dem erreichten Integrationsstand Rechnung trägt und über diesen Klarheit für den Bürger schafft. Am Ende dieses europapolitischen Abenteuers steht nun eine Europäische Verfassung – wenn auch formal gesehen in Form eines Vertrags. Im Verfassungstext selbst taucht bereits in der Präambel der Begriff "Verfassung" auf und hat sich schon heute im Sprachgebrauch eingebürgert. Vor wenigen Jahren schien dies noch undenkbar. Aber wird die Europäische Union mit dieser Verfassung für ihre Bürger künftig auch als politische und kulturelle Einheit greifbarer?

Aufgabe der Europäischen Verfassung ist nicht nur, die quasi-staatliche Ordnung der EU, ihre Institutionen, Verfahren und Politikbereiche sowie die Aufgabenverteilung im Mehrebenensystem zu regeln, sondern zunächst vor allem ein klares Bild vom Wesen der EU selbst zu vermitteln. Letzteres gilt umso mehr für ein Gebilde, das die Nationalstaaten nicht ablöst, sondern neben diesen besteht und deshalb einer plausiblen Erklärung für seine Existenz bedarf.

Was aber macht die Europäische Union in ihrem Kern aus? Warum beschreiten die Mitgliedstaaten seit über 50 Jahren den Weg der Europäischen Integration? Von welchen Zielen und Werten werden sie dabei geleitet? Haben es die Verfassungsgeber verstanden, ein in sich stimmiges und für die Bürger nachvollziehbares Bild einer Union zu zeichnen, die trotz aller Vielfalt einen Kern an Gemeinsamkeiten besitzt? Vermittelt die Verfassung im Levy'schen Sinne eine "Idee" von der Europäischen Union?

Im Hinblick auf diese Fragen sind die ersten Verfassungsartikel von zentraler Bedeutung. Zwar lässt sich eine Verfassung letztlich nur in der Gesamtheit ihrer Substanz erschließen. Doch muss gleich zu Beginn ein tragfähiges verfassungskulturelles Fundament gelegt werden, das Bezugspunkt für alle folgenden Artikel ist, das die Ziele und Werte definiert, aus denen sich alles Weitere ableiten lässt. Die Funktionsweise des Europäischen Parlaments muss ebenso auf diese Grundlagen zurückzuführen sein wie die Ziele der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder die Regelungen zum Binnenmarkt.

Im Folgenden wird analysiert, ob Präambel und Titel I (Art. I-1 bis Art. I-8 des Vertrags über eine Verfassung für Europa/VVE; CIG 87/2/04 REV 2 vom 29. Oktober 2004) diesem Maßstab standhalten. Es wird dargelegt, wie diese Artikel im Konventsprozess entstanden sind, welche zentralen Punkte im Konvent und in der sich anschließenden Regierungskonferenz diskutiert wurden und wie die Verfassungsbestimmungen vor dem Hintergrund der Ausgangsfrage zu bewerten sind.