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Integration lebt von Anerkennung und Austausch

C·A·P-Interview mit Prof. Rita Süssmuth

"Die große Mehrheit der Migranten weist alle Kräfte auf, um sich zu integrieren."

Bundestagspräsidentin a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rita Süssmuth über den Stand der Integrationsbemühungen in Deutschland, bildungspolitische Perspektiven und die europäische Komponente in der Bildungspraxis.

Das Gespräch führte Sebastian B. Beck im Rahmen der Tagung "Zuwanderung und Integration als bildungspolitische Herausforderung", bei der die Forschungsgruppe Jugend und Europa vom 16.-17.10.07 Expertinnen und Experten der bundesdeutschen Bildungsarbeit zu einem Fachaustausch mit Prof. Rita Süssmuth ins C·A·P geladen hatte.

08.11.2007 · Forschungsgruppe Jugend und Europa




Prof. Dr. Rita Süssmuth im C·A·P

Wie schätzen Sie den Stand des Integrationsprozesses in Deutschland ein?

Süssmuth: Wir haben konzeptionell einen Paradigmenwechsel vollzogen, das ist schon ein Quantensprung. In der Umsetzung jedoch stehen wir noch am Anfang. Ein gutes Beispiel ist der Bereich der Schulabschlüsse zum Übergang in die Berufwelt. Es gibt gut ausgebildete Leistungsträger, die aufgrund der Tatsache, das sie keine Deutschen oder nicht deutschstämmig sind, erhebliche Probleme haben, in die Arbeitswelt integriert zu werden. Das zeigt sich daran, wie gering der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in unseren Behörden, im öffentlichen Dienst oder in unseren Bildungseinrichtungen ist. Verglichen damit ist die Integration hauptsächlich in der Wirtschaft erfolgt. Aber die politische Wende ist vollzogen bis tief in die Sprache hinein. Vielfalt wird nicht mehr nur als ein Unheil gesehen, sondern als ein Faktum, dass es zu gestalten gilt. Auch in unseren politischen Gremien wird in Fragen der Zuwanderung mehr über Bereicherung als über Belastung geredet.

Was sind die Gründe dieses Paradigmenwechsels in der Integrationsdebatte?

Süssmuth: Es ist ein Prozess, der unterschiedliche Schübe erfahren hat, ein Wechseln zwischen Rückführung und Integration als um die Jahrtausendwende festgestellt wurde, uns fehlen noch qualifizierte Arbeitskräfte. Die Greencard war nicht eine Lösung, sondern zunächst eine Maßnahme, um begrenzte Öffnung vorzunehmen, auch im Sinne der Einwanderung des längerfristigen Aufenthalts. Mehr Integration war auch die Antwort auf ausländerfeindliche Ausschreitungen, was nicht sofort zu einer Änderung geführt, aber zur Entwicklung beigetragen hat. Ein weiterer Punkt sind die demographischen Entwicklungen. Wir wissen aus der Mikrozensus-Studie, dass die Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund 20 Prozent beträgt und weiter wachsen wird. Darauf haben viele Kommunen reagiert, denn dies hat Konsequenzen für unser Zusammenleben.

Heute spielt der 11. September mit all seinen Nachteilen eine große Rolle. Er hat Ängste ausgelöst, aber auch die Frage: wie leben wir künftig friedlich zusammen? Was ist die Grundlage dafür? Dies sind Fragen, die auch die Globalisierung aufwirft. Wie lösen wir Probleme miteinander? Wir wollen Kohäsion und Integration, nicht Konfrontation und Crash.

Integration wird oft als Bringschuld der Migrantinnen und Migranten gesehen.

Süssmuth: Bringschuld klingt ganz so, als hätten diese Menschen eine Schuld auf sich geladen. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten ist hochaktiv, um sich zu integrieren. Sie leisten die Hauptarbeit mit ihren Familien. Aber damit es gelingt, sind sie angewiesen auf die Umwelt, in der sie leben. Das beginnt mit der Frage: muss ich mich im Aufnahmeland verstecken oder darf ich sichtbar sein? Darf ich ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit entwickeln oder nicht?

Lange Zeit haben wir gedacht – und das ist den Migrantinnen und Migranten auch so vermittelt worden: "Ihr seid für eine bestimmte Zeit hier und kehrt dann in euer Heimatland zurück!". Dieses Muster ist noch in den Köpfen, aber wir haben begriffen, dass diese Zuwanderer hier leben und zu uns gehören. Ich hoffe nicht nur rational, sondern auch sozial. Schwierig wird es mit der emotionalen Zugehörigkeit...

... denn es gibt weiterhin Vorbehalte gegenüber bestimmter Gruppen?

Süssmuth: Es gibt Gruppen, die sich nicht integrieren wollen. Über die sprechen wir unentwegt. Nicht über die große Mehrheit, die alle Kräfte aufweist, um sich zu integrieren. Das sage ich angesichts der Tatsache, dass wir in der Zeit der "Gastarbeiter" überwiegend Menschen ohne oder nur mit ganz geringer Schulbildung ins Land geholt haben. Solange sie Arbeit hatten, war das kein Problem. Aber mit dem Wegfall der Arbeitsplätze, für die wir sie gerufen hatten, sind sie nicht mehr weiterqualifiziert worden.

Wenn wir uns in den Studien umschauen, zeigt sich wie viele ostanatolische Familien Erhebliches getan haben, um ihren Töchtern und Söhnen eine gute Schulausbildung zu geben. Wir haben heute unter ihnen Klassen- und Schulbesten in wachsender Zahl. Das sind gleichsam ermutigende Modelle für diejenigen, die überwiegend die Erfahrung gemacht haben: Ich versage hier, ich scheitere, ich bleibe immer auf dem untersten Level.

Große Probleme haben wir mit nicht integrierten Gruppen aus der zweiten und dritten Generation, die hier geboren und aufgewachsen sind, aber große Defizite bei der Sprache und mit der Bildungskarriere haben. Integration ist auch hier möglich: etwa durch die vorschulische Bildungsförderung. Wir sind da auf gutem Wege, müssen aber aufpassen, dass wir nicht zu sehr verschulen, sondern den kindlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen Rechnung tragen. Wir haben gute Ergebnisse in der Grundschule. Immens lernen müssen wir im Sekundarbereich: 20 Prozent verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Bis zu 40 Prozent erhalten keinen Ausbildungsplatz.

Der Bildung kommt also eine zentrale Rolle in Sachen Integration zu. Welchen Faktor spielt eine europäische Dimension im Bildungsbereich?

Süssmuth: Ganz unabhängig von der Integration: In unserem Bildungssystem tragen wir diesem Europa, wie es gewachsen ist und wie es in seiner Vielfalt besteht, zu wenig Rechnung. Wenn ich in der Kunst die Renaissance behandle, muss ich gleichzeitig fragen: Wie sah es zu dieser Zeit in anderen Ländern und Erdteilen aus? Im vorderen Orient, in Asien, in Lateinamerika? Das vermittelt ein besseres Verständnis und ist ein anderer Ansatz, als nur im Nationalen zu verbleiben. Natürlich muss ich auch das Eigene kennen, sonst kann ich nicht in den Austausch mit anderen darüber gehen, was uns unterscheidet und verbindet. Insofern brauchen wir ein Bildungswesen, das in den Unterrichtseinheiten zugleich das Eigene und Europäische sowie das Globale zur Geltung bringt. Die Kinder, die nicht aus Europa kommen, können sich uns nicht zugehörig fühlen, wenn nicht von ihrer Herkunft, ihrer Identität die Rede ist. Die kultur- und bildungspolitische Perspektive lautet heute: Ja zur Integration, ja zur Anerkennung der Kulturen der hier Lebenden, ja zu unseren Gesetzen und Verfassung. Aber keine Verleugnung der Herkunftskultur. Die Chance auf Problemlösung liegt im Austausch.


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