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Europäische Union: Die Anti-Krisen-Gemeinschaft Europa

Ein Artikel von Werner Weidenfeld

15.10.2012 · Financial Times Deutschland



Einzig Europa hatte die Kraft, alte Kriegsgegner zu befrieden. Jetzt kann die Gemeinschaft ein zweites Mal eine Antwort sein: auf die Globalisierung. Eine Lobrede auf die Europäische Union von Werner Weidenfeld.

Die Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreis an die Europäische Union führt uns die große, ja einzigartige historische Leistung der europäischen Integration vor Augen - jenseits der alltäglichen Probleme, Konflikte, Frustrationen.

Europa erlebt eben viele Stimmungswechsel: Es gab Zeiten, da löste das Europathema eher Langeweile aus. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war etabliert. Sie besaß Zuständigkeiten für den Agrarmarkt und den Außenzoll. Die Integration war fester Bestandteil der weltpolitischen Statik des Ost-West-Konflikts. Viele Brüsseler Korrespondenten klagten, dass ihre Heimatredaktionen keine Artikel zu Europa haben wollten. Dies alles hat sich nun tief greifend verändert. Europa ist zum Machtkoloss geworden. Ein umfassender Kompetenztransfer von den Mitgliedsstaaten auf die supranationale Ebene hat stattgefunden. Einen symbolträchtigen Ausdruck fand dies in der Schaffung der gemeinsamen Währung Euro.

Notwendig ist also Erklärung, Begründung und Deutung in einer unruhigen und zugleich komplizierten Zeit. In der Geschichte Europas ist dies nicht zum ersten Mal notwendig. Die historisch bedeutendste neue Deutung der Lage war am Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachten: Ein Kontinent hatte über Jahrhunderte Kriege und Katastrophen erlebt. Millionen von Menschen wurden vernichtet. Blutspuren zogen sich durch die Nationen. Das Syndrom des völligen Untergangs, der völligen Vernichtung wurde anschaulich und real.

Um dies alles abzuwenden, wurde der Hebel der politischen Kultur komplett gewendet: Nicht mehr eine nationalistische Überschätzung, nicht mehr die aggressive Feindlichkeit sollten die europäische Welt bestimmen, sondern der Aufbruch in ein gemeinsames Europa. Eine supranationale Gemeinschaft sollte Frieden unter jenen Staaten schaffen, denen das über Jahrhunderte nicht gelang. Ein rechtsstaatlicher Verbund der ehemaligen Kriegsgegner wurde zum Zukunftsmodell.

Diese Friedensperspektive besaß eine zweite Dimension: Im Ost-West-Konflikt fühlte man sich in den Demokratien des Westens existenziell bedroht durch die kommunistischen Diktaturen des Ostens. Jeder westeuropäische Staat wäre zu schwach, um der imperialen Weltmacht des Ostens erfolgreich Widerstand leisten zu können. Nur gemeinschaftlich würde ein Überleben gelingen.

So wurde die Integration Europas zur unmittelbar plausiblen existenziellen Überlebensbedingung der Demokratien. Europarat, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Atomgemeinschaft, deutsch-französischer Freundschaftsvertrag - eine große Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf, auf der Grundlage der neuen Erfahrung von Frieden, Freiheit und Sicherheit.

Aber die unmittelbar prägende und persönliche Erfahrung der blutigen Schlachtfelder ist mehr und mehr in die abstrakten Texte der Geschichtsbücher verschwunden. Diese Erosion der Friedensvision wurde später nochmals angegangen; die positive Idee wurde reaktiviert. Als man unter der Führung von Kanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsidenten François Mitterrand eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung schuf, wurde Kohl nicht müde, diesen Schritt als eine Frage von Krieg und Frieden zu erklären. In den aktuellen Turbulenzen um den Euro griff Altbundeskanzler Kohl dieses Bild wieder auf. Er schrieb in einem Artikel erneut, Europa sei eine Frage von Krieg und Frieden.

Aber die Reaktion war völlig anders als früher. Selbst seriöse Kommentare bescheinigten dieser Formel nun öffentlich, sie sei "gespenstisch". Daraus ist abzuleiten: Die elementare Begründung der Einigung Europas muss die neuen Konstellationen ebenso erklären wie die lange Geschichte der Erfolge und der Krisen. Bloßes Wiederholen der alten Formeln reicht zum Verstehen der komplexen Lage Europas nicht aus.

Aber genauso wenig kann das bloße Abheben auf situatives Krisenmanagement und fluide Spekulationswellen der Märkte die Lage erklären. Europa kann nur als rettende Antwort auf die Globalisierung ein neues Ethos entfalten. Auf die Globalisierung mit ihren dramatischen Konsequenzen für jeden Einzelnen liefert Europa die Antwort mit seinem strategischen Konzept der Differenzierung nach innen und nach außen. Nur die Gemeinschaft ist stark genug, den Staaten Schutz, Ordnung und Individualität zu garantieren. Europa hat das Potenzial zur Weltmacht. Allerdings muss dieses Potenzial angemessen organisiert und mit dem Geist europäischer Identität erfüllt werden.

Eine mächtige politische Wirklichkeit, die ihre Identität sucht, braucht den Ort repräsentativer Selbstwahrnehmung. In der klassischen Lehre der repräsentativen Demokratie ist dieser Ort das Parlament. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sind heute aber weit davon entfernt, der öffentliche Ort der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft mit ihren Zukunftsbildern und Hoffnungen, mit ihren Ängsten und Konflikten zu sein. Das Europäische Parlament muss also - wie auch die nationalen Parlamente - seine Rolle neu verstehen. Identität wird durch einen gemeinsamen Erfahrungshorizont kreiert. Die Möglichkeiten hierzu bieten sich schon jetzt.

Die Dichte integrativer Verbindung hat drastisch zugenommen. Längst ist es nicht mehr die bloße Zollunion oder dann nur der Binnenmarkt. Aber eine kompakte europäische Antwort bleibt bisher aus. Allzu lange kann sich Europa dies nicht erlauben. Vielmehr muss es sich als Strategiegemeinschaft verstehen.


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