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Die neue Unterhaltsamkeit des Protestierens

Events für Medienverwöhnte und echte Sorge: Wie umgehen mit dem neuen Bürgerzorn? Von Werner Weidenfeld.

22.01.2011 · Bayernkurier



Deutschland regt sich auf. Stuttgart 21 eskalierte zu einem Symbol neuer Protestbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die dramatischen Bilder gewaltsamer Auseinandersetzung um einen Bahnhofsneubau graben sich tief ein in das Bewusstsein der Bürger. Die Bundeskanzlerin fühlt sich herausgefordert, höchstpersönlich eine solche lokale Infrastrukturmaßnahme zu einem Schlüsselthema der Republik zu erklären. Da stehen plötzlich zehntausende ja hunderttausende Bürger auf der Straße. Der Aufstand in der Hauptstadt Baden-Württembergs zieht zwar magnetisch das massenmediale Interesse an – es ist aber kein singuläres Ereignis. In praktisch jeder Stadt ist ein ähnliches Phänomen zu registrieren. Mal handelt es sich um einen Tunnelbau, eine Brückenkonstruktion, ein neues Kraftwerk, eine Bahntrasse, eine Flugschneise, eine Tiefgarage, mal um die Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2018. So lange wie zuletzt hat der Castor-Transport zum Atommüll-Lager in Gorleben noch nie gedauert.

Diese Aufstände hätten eigentlich mit einem Hinweis auf alte Weisheiten aus elementaren Lehrbüchern der Sozialkunde beantwortet sein müssen: Die Repräsentative Demokratie hat rechtsstaatliche Verfahren festgelegt. Die Entscheidungen sind korrekt gefällt. Die Volksouveränität ist auf legitime Repräsentanten übertragen, die entsprechende Aufgaben wahrnehmen. Diese alte, hausbackene Erklärung erfasst aber die neue Aufgeregtheit nicht mehr. Es handelt sich bei den Protestlern auch nicht mehr um die radikalen Ideologen früherer Jahrzehnte. Die ehemaligen Straßenkämpfer haben das Heft nicht mehr in der Hand.

Jetzt ist es die bürgerliche Mitte, die auf die Straße geht und protestiert. Sie fühlt sich nicht mehr vom herkömmlichen Parteienstaat gebunden. Sie begehrt gegen Entscheidungen auf, die viele bis gestern selbst mit angestrebt haben. Die Distanzierung vom Politischen wird zum Fanal neuen Aufbegehrens. Die massenmedial verwöhnte Ereignisgesellschaft erfreut sich an neuen Events. Im Protest findet sich für viele das neue Gemeinschaftserlebnis, die neue Unterhaltsamkeit.

Wie kann die Politik auf das neue Phänomen antworten? Sie sollte viel früher partizipative Elemente zulassen. Die Bürger sollten viel früher ihre Stimmungslagen einbringen können und Gehör finden. Und dann sollte Politik Orientierungswissen bieten. Die Bürger suchen Vertrauen, Zuverlässigkeit, Kalkulierbarkeit. Wenn die Politik auf den Protest nur empört, verwundert reagiert, dann wird die Wucht dieser Bewegung eigene Verlaufsformen finden. Das Nachschlagen in den alten Lehrbüchern der Sozialkunde wird allein keine Antworten auf die neue Protestbewegung liefern. Politik sollte kreativer und sensibler werden.



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