Die ratlose Dame Europa
Die EU könnte eine große Rolle in der Weltpolitik spielen, wenn sie sich ihren Bürgern bloß besser erklärte - von Werner Weidenfeld
10.11.2010 · FTD
Europa könnte ein neues Kapitel seiner Erfolgsgeschichte schreiben. Die Bewohner der Europäischen Union haben erkannt, dass für die Agenda der Zukunft der einzelne Staat zu klein und der Hinweis auf die Globalität zu diffus ist. Der Kontinent aber, auf dem rund 500 Millionen Menschen ihr Zusammenleben politisch organisieren, ist die angemessene Größenordnung. In der Wahrnehmung seiner Bürger hat Europa auf dem Unterfutter globaler Finanzkrisen enorm an Bedeutung gewonnen. Trotzdem schlägt es gerade eine neue Seite seines umfangreichen Buches der verpassten Chancen auf. Die Menschen begeben sich in eine Art innerer Migration, weil die Politik ihnen keine Orientierung bietet. Warum eigentlich nicht? Vor einigen Jahren hatte bereits der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy einen strategischen Aufbruch gefordert. Bei seinen europäischen Kollegen aber löste er nur Vorbehalte aus. Dabei ist die Liste existenzieller Zukunftsfragen nicht zu übersehen: Das Thema Sicherheit stellt sich mit völlig anderer Dringlichkeit. Das alte Prinzip der Abschreckung ist ausgehebelt. Die Bedrohung ist viel differenzierter, schwieriger zu kalkulieren und multidimensionaler global vernetzt, mobiler, ihre Technologie wandelt sich schneller. Die Politik muss strategische Antworten auf diese Probleme erarbeiten, will sie die Chance auf ein Überleben stärken.
Furcht vor Unpopularität
Bisher aber taucht die Politik ab. Die
dramatischen Veränderungen der Demografie
ignoriert sie in geradezu
peinlicher Form sie fürchtet punktuelle
Unpopularität. Dabei leben in
ganz Europa zunehmend ältere und
immer weniger junge Menschen; das
Arbeits- und Sozialleben aber folgt
immer noch der Logik des 19. Jahrhunderts.
Damals waren Menschen
wegen ihrer harten Arbeit und ihrer
schlechten Ernährung sehr früh körperlich
verbraucht. Entsprechend
wurde der Ruhestand organisiert.
Heute bleiben die Menschen zwar bis
ins hohe Alter arbeitsfähig, werden
aber künstlich aus dem Arbeitsmarkt
entfernt. Die Politik kennt die Schärfe
der Daten, wagt sich aber nicht an die
Lösung des Problems.
Beim Thema der Energieversorgung
sieht der Befund ähnlich aus:
Europa ist der größte Energieimporteur
der Welt, unsere Lieferanten sind
aber im Wesentlichen Länder in Krisenregionen
oder machtbewusste
Staaten ohne Stabilitätsgarantie. In
Europa brennen künftig nur die Lichter,
wenn es sich auf ein global angelegtes
gemeinsames Konzept der
Energiesicherung verständigt. Bislang
ist davon wenig zu spüren.
Europa trägt als eine werdende
Weltmacht natürlich eine große weltpolitische
Mitverantwortung. Doch
gleichgültig, ob es sich um die globalen
Finanzmärkte oder den Klimawandel
handelt, um Migration oder
ethnologische Konflikte keine Weltmacht
kann solche Herausforderungen
allein bewältigen. Wir brauchen
dazu strategische Partnerschaften. In
Indien, China und Brasilien sucht
Europa bis heute aber vergeblich nach
solchen Partnern. Nicht einmal bei
den USA oder Russland lassen sich
strategische Profile ausmachen.
Die EU verzeichnet also einerseits
einen Bedeutungsgewinn andererseits
aber leidet sie unter der gleichen
Erosion der politischen Kultur wie
auch ihre Mitgliedstaaten. Hier wie
dort bedarf es dringend einer Strategie,
eines Zukunftsbildes und einer
Botschaft aber hier wie dort wird nur
punktuell, situativ und sprunghaft
agiert. Das politische Grundmuster
muss sich ändern.
Aber wie soll Europa die großen
Zukunftsschritte angehen? Aus einem
historischen Beispiel lassen sich interessante
Schlussfolgerungen ziehen:
Anfang der 80er-Jahre befand sich die
europäische Integration im tiefen
Niedergang. Eurosklerose wurde
zum Schlüsselbegriff. Europa konnte
mit den dynamischen Märkten nicht
mehr mithalten. Es schien erschöpft,
gleichsam ein Ausschnitt aus dem
Museum. Der damalige Bundeskanzler
Helmut Kohl und der französische
Staatspräsident François Mitterand
erkannten die Notwendigkeit eines
strategischen Aufbruchs.
Es bedurfte eines entsprechend begabten
politischen Kopfes. Sie fanden
ihn: Jacques Delors, starker französischer
Finanzminister. Die meisten sahen
in ihm den zukünftigen französischen
Staatspräsidenten. Er aber
nahm die Herausforderung Europa an.
Zunächst zog er sich für einige Monate
zurück, um, wie er sagte, strategisch
nachzudenken. Dann trug er
sein Ergebnis vor: Europa brauche
zum Aufbruch eine große historische
Aufgabe. Das könnten die Neuorganisation
der Sicherheit oder die Vollendung
des Binnenmarkts sein. Nur für
eine dieser großen Aufgaben besitze
Europa die Kraft. Die Wahl fiel auf den
Binnenmarkt. Dies bedeutete die
mehrjährige Umsetzung von fast 300
Gesetzen. Es gelang der Politik, die
Öffentlichkeit mit den Daten und Argumenten
des umfangreichen Cecchini-
Reports zu überzeugen. Der eingeschlagene
Kurs wurde politisch über
etliche Jahre durchgehalten.
Besser erklären
Aus diesem gelungenen Beispiel können wir für unsere gegenwärtigen Herausforderungen lernen: Wir brauchen starke politische Führungsfiguren und strategische Köpfe. Notwendige Schritte müssen erklärt und vertrauensbildend umgesetzt werden. Jürgen Habermas legt den Finger in die offene politische Wunde unserer Zeit. Er kritisiert eine normativ abgerüstete Generation, die sich von einer immer komplexer werdenden Gesellschaft einen kurzatmigen Umgang mit den von Tag zu Tag auftauchenden Problemen aufdrängen lässt. Sie verzichtet im Bewusstsein der schrumpfenden Handlungsspielräume auf Ziele und politische Gestaltungsabsichten, ganz zu schweigen von einem Projekt wie der Einigung Europas. Es liegt auf der Hand: Europas Politik muss das Erklärungsdefizit eliminieren. Sie muss viel mehr Zeit und Kraft darauf richten, ihr Handeln zu erläutern. Wer die Deutungshoheit gewinnt, gewinnt auch die Zukunft.
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