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Potenzial zur Weltmacht

Was Europa nach der Krise anpacken sollte –
Ein Beitrag von Werner Weidenfeld

31.07.2010 · Bayernkurier



In inflationärer Häufigkeit prägt ein Begriff die Debatten: Krise. Europa befindet sich in einer Euro-Krise, einer Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise, einer Umweltkrise, einer Führungskrise. Der Stammtisch weiß bereits: Die gemeinsame Währung zerfällt. In logischer Konsequenz zerfällt Europa. Die Perspektive liegt in Absetzbewegungen eines „Rette sich wer kann“!

Jenen Untergangs-Dialogen sind die Realitäten des politischen Lebens entgegenzusetzen: Europa hat unter dem aktuellen Druck sogar Bedeutungsschübe erhalten. Die drastischen Formen der Internationalisierung, ja der Globalisierung sind evident. Die Währungskrise ist eine weltweite Herausforderung. Kein einzelnes Land kann sie allein meistern – weder ein Deutschland noch ein Frankreich, weder eine USA noch ein China oder Indien.

Also könnte man sofort an eine globale Lösung appellieren. Aber dieser Appell würde im diffusen Nebel unscharfer Verhältnisse verhallen. Als handlungsfähiger, weltpolitisch relevanter Faktor bleibt Europa. Hier haben rund 500 Millionen Menschen ihr Zusammenleben politisch effektiv organisiert. Die Europäische Union verfügt über Weltmacht-Potential, was ökonomische Kraft, Bildungsniveau, Militär, Wissenschaftsentwicklung, politische Stabilität anbetrifft.

Vor einem solch dialektischen Hintergrund von Krise und Weltmachtpotential stellt sich umso interessanter die Frage nach der Zukunft des Kontinents. Wie wird Europa in 10 bis 20 Jahren aussehen?

Die erste Antwort muss uns alarmieren: Europa gibt uns darauf keine gemeinsame, überzeugende Antwort. Der politischen Kultur ist das strategische Denken abhanden gekommen. Sie erfüllt sich in situativer Detailhektik. Es fehlt an Deutungs- und Erklärungskraft. Damit bleibt die notwendige Orientierungsleistung auf der Strecke. Die Geschichte der Integration zeigt jedoch, dass nach Phasen solcher Desorientierung die strategische Kultur die Dinge wieder ordnet.

Europa wird dabei zwei existentielle Probleme zu lösen haben. Es wird eine Antwort auf die drastische Veränderung der Demographie zu geben haben. Die Zahl der älteren Menschen nimmt in ganz Europa, nicht nur in Deutschland, dramatisch zu. Der Anteil der jüngeren Menschen nimmt dramatisch ab. Die Lücke lässt sich nicht von Zuwanderern allein füllen. Die Organisationsform des Arbeits- und Soziallebens aber folgt immer noch der Logik des 19. Jahrhunderts. Damals waren die Menschen wegen ihres harten Arbeitslebens in Landwirtschaft, Handwerk, Bergbau früh körperlich verbraucht. Entsprechend wurden die Regelungen des Ruhestandes organisiert. Heute aber bleiben die Menschen bis ins hohe Alter arbeitsfähig – sie werden aber künstlich gleichsam wie im 19. Jahrhundert aus dem Arbeitsmarkt entfernt. Die Politik kennt zwar die Dramatik der Daten – wagt sich jedoch an die Lösung nicht wirklich heran. Schritte dorthin könnten zunächst unpopulär sein, wenn man nicht über die überzeugende Erklärungskraft verfügt. Also überlässt man die Erfahrung eines europaweiten demographischen Wandels der Gesellschaft den Nachfolgern.

Es wird auch eine Antwort auf die Zukunft der Energieversorgung zu finden sein. Europa ist der größte Energieimporteur der Welt. Es kann kleine Leistungen aus Norwegen, bescheidene regenerative Energien und begrenzte Atomstrom-Angebote nutzen. Das eigentliche große Kernpaket der Energieversorgung aber muss von außen geliefert werden. Das bieten Länder aus dem Nahen und Mittleren Osten, die jedoch alle in Krisenregionen ohne Stabilitätsgarantie platziert sind. Daneben ist Russland der Groß-Exporteur von Energie nach Europa. Moskau hat aber immer demons­triert, dass es seine Energievorräte als Schlüssel zur internationalen Macht einzusetzen versteht.

In Europa werden also nur die Lichter brennen bleiben, wenn es sich auf eine klare Strategie der Energiesicherung verständigt. Bisher ist davon wenig zu spüren – unter dem Druck der Not wird es irgendwann erfolgen. Wir hoffen, es wird nicht zu spät sein.

Diese Liste existentieller Fragen an Europa ist zu ergänzen – von der Organisation der Sicherheit über die Organisation der Bildung bis hin zum künftigen Profil der Forschung. Für all das wird Europa eine strategische Kultur entfalten und vertiefen müssen.

Der Vertrag von Lissabon hat fünf politische Schlüsselämter etabliert: den Präsidenten des Europäischen Rates, den Präsidenten des Ministerrates, den Präsidenten der Kommission, den hohen Repräsentanten für die Außen- und Sicherheitspolitik, den Vorsitzenden der EuroGruppe. Wer aber hier über die Priorität verfügt, wer hier das Sagen hat, wer hier wirklich führt, ist völlig unklar. Dies muss aber in den nächsten Jahren geklärt sein.

Auf diese Führung kommen große Gestaltungsaufgaben zu, vor denen sie sich nicht einfach wegducken kann. Sie muss die „differenzierte Integration“ organisieren. Darunter ist zu verstehen, dass künftig die weiteren Integrationsschritte nicht von allen gleichzeitig vollzogen werden. Was im Europa der sechs Mitgliedstaaten sinnvoll war, kann im Europa mit 27 oder mehr Mitgliedern nicht funktionieren. Warum sollen 25 Mitglieder warten müssen, nur weil zwei Mitglieder nicht wollen? Warum muss das letzte Mitglied zu einem Schritt gezwungen werden, den es eigentlich ablehnt? Der Vertrag von Lissabon lässt eine solche Differenzierung für viele Felder zu. Bisher wurde so etwas nur unter großem Druck jenseits des normalen Vertragsverfahrens ermöglicht, beispielsweise bei der Einführung des Euro oder beim Schengener Abkommen zur Inneren Sicherheit. Künftig wird es vertragskonform in etlichen Varianten eingesetzt, z.B. in der Sicherheitspolitik, der Energiepolitik und Umweltpolitik. Der Gedanke der „differenzierten Integration“ wird aber auch in den Außenbeziehungen zum Tragen kommen. Die Mittelmeerunion bietet dafür Anhaltspunkte ebenso wie die „östliche Nachbarschaft“! Diese „differenzierte Integration“ nach Innen und nach Außen verlangt im künftigen Europa dringend nach einer strategischen Führungskultur.

Für die entscheidenden Kriterien hilft ein historischer Blick auf den Prozess der Europäischen Integration. Dabei kristallisieren sich vier Faktoren heraus, die über Erfolg oder Scheitern der Reformsuche bestimmen.

  • Erstens: Das Vorhandsein eines Problembewusstseins bei allen Akteuren.

  • Zweitens: Die Fähigkeit zu strategischem Denken über das Situative hinaus.

  • Drittens: Die Existenz von politischer Macht;

  • Viertens: Die Schaffung einer entsprechenden politischen Infrastruktur. Dazu gehören nicht zuletzt auch ein Gespür für das richtige Timing, die Fähigkeit, handlungsfähige Netzwerke zu knüpfen, sowie die Schaffung einer intellektuellen und medialen Aufmerksamkeit.

Europa braucht heute weder Hektik noch Hysterie. Europa braucht kühles, strategisches Denken und Handeln.


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