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Sorge um Europa

Das Bundesverfassungsgericht und der Vertrag von Lissabon. Ein Kommentar von Werner Weidenfeld.

14.02.2009 · Neue Westfälische



Die dramatische Welt-Finanzkrise rückt Europa in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Bei allen internationalen Konflikten wird nach der Strategie Europas gefragt. Das Gleiche gilt für die Perspektiven der Terrorbekämpfung, für die Sicherung der Energieversorgung, für die Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen. Und in praktisch allen Fällen agiert Europa zu langsam, zu unscharf, zu uneinig.

Seit etlichen Jahren haben führende Entscheidungsträger dieses Dilemma erkannt. Sie wollten Europa daraus befreien. Dies sollte die europäische Verfassung leisten – sie ist gescheitert. Unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel wurde rasch ein Ersatz geschaffen: der Vertrag von Lissabon. Aber auch der steht auf der Kippe. Nicht nur in Irland und Tschechien werden Zweifel laut. Jetzt rückt auch das Bundesverfassungsgericht in die europäische Arena des Pro und Kontra.

Durchaus seriöse Kläger werfen der Bundesregierung, dem Bundestag und Bundesrat vor, mit dem Lissabon- Vertrag eine Entstaatlichung und eine Entdemokratisierung der Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen. Da auch der Zuständigkeitsraum des Bundesverfassungsgerichts durch die Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofes geschmälert wird, hören die obersten Richter den Klägern mit Sympathie zu. Würde der Vertrag vor Gericht scheitern, Europa stürzte in seine größte Krise der Nachkriegszeit.

Daher ist es wichtig, den Kern des Vertrages zu begreifen: Fast kein Entscheidungsfeld könnte sich dem faktischen europäischen Zugriff entziehen. Der Lissabon-Vertrag führte eine Personalisierung Europas ein (gewählter Präsident des Europäischen Rates, Hoher Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik). Er schafft praktisch ein Zwei-Kammer-System durch Ausbauen des Mitentscheidungsverfahrens von Europäischem Parlament und Ministerrat. Alles in allem bietet er einen erheblichen Fortschritt in Sachen Parlamentarismus, Demokratie und Effektivität.

Aber: Der Vertrag ummantelt die klaren Fortschritte auf mehreren hundert Seiten mit einer Fülle undurchsichtiger bürokratischer Details. Das munitioniert alle Gegner, sei es der polemische Populismus in Irland, sei es der antieuropäische Nationalismus in Tschechien oder seien es die Kläger beim Bundesverfassungsgericht. Ihr Erfolg würde schwächen, was sie verbal stärken wollen: Parlament, Demokratie, staatliche Handlungsfähigkeit.

Ein kluges Bundesverfassungsgericht sollte die unbezweifelten Fortschritte des Vertrags klar- und deutlich machen. Und dann jeden Schritt in die Intransparenz untersagen. Europa wird heute politisch dringender gebraucht denn je. Aber um wirklich handlungsfähig zu sein, muss es aus der Intransparenzfalle befreit werden.


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