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Von der Freundschaft zur neuen Offenheit

Ein Artikel von Werner Weidenfeld zum notwendigen Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen.

Der Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen muss im Zeichen eines nüchternen strategischen Realismus stehen.

07.12.2005 · Financial Times Deutschland



Politisch sensibler hätte die Lage für eine erste Begegnung nicht sein können: Die Geiselnahme einer Deutschen im Irak und die Vorwürfe von geheimen CIA-Gefängnissen standen im Mittelpunkt, als US-Außenministerin Condoleezza Rice gestern mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier zusammentraf.

Beide Seiten scheinen aber nach dem Regierungswechsel an der Spree entschlossen, das deutsch-amerikanische Verhältnis neu zu justieren. Merkel und Steinmeier gaben sich vor den Kameras demonstrativ freundschaftlich gegenüber dem Gast. Die Eiszeit auf der Spitzenebene zwischen Washington und Berlin soll beendet werden.

Die USA brauchen die Europäer zur Lösung wichtiger außenpolitischer Fragen. Beide Partner stehen vor einer langen Liste gemeinsamer Herausforderungen: die mittel- und langfristige Stabilisierung des Irak, die Verhandlungen mit Teheran über die nichtmilitärische Anreicherung von Uran, die Frage des Umgangs mit aufstrebenden Mächten wie China und Indien, nicht zuletzt die Entwicklungen in Russland.

Die Europäer sind dabei immer noch über das Vorgehen der USA im Irak befremdet. Nur langsam setzt sich die Einsicht durch, dass man außenpolitisch ohne die USA nur begrenzt handlungsfähig ist. Militärische Fähigkeiten und Mittel sowie der gemeinsame politische Wille aller Europäer, global Verantwortung zu übernehmen, sind weiterhin zu schwach, um in derselben Liga wie die Weltmacht spielen zu können.

Eine neue, offene Atmosphäre soll nun die Beziehungen bestimmen. Dies ist Anspruch genug für einen Antrittsbesuch, die Probleme gehen aber weit tiefer. Amerikaner und Deutsche müssen eine Antwort finden auf das Ende der transatlantischen Selbstverständlichkeiten und die zunehmende Entfremdung ihrer Gesellschaften. Das historische Pathos ist endgültig aus den Beziehungen verschwunden. Der schonungslose Blick zeigt ein Europa und ein Amerika, die nach dem 11. September 2001 unterschiedliche Risikokulturen entwickelt haben. Der Angriff auf New York hat ein neues Sicherheitsverständnis der USA geprägt. Dem Kampf gegen den Terror wird alles untergeordnet. Merkel betonte dagegen, dass dieser Kampf zwar wichtig sei, dass man aber sehr wohl die Wahl der Mittel abwägen müsse.

Skepsis in der Bevölkerung

Washington hat eine kühl kalkulierte Charmoffensive gestartet. Diese bringt die neue Bundesregierung in eine schwierige Lage. Einerseits kennen die USA sehr genau die Begrenzungen des außenpolitischen Engagements Deutschlands. Andererseits wächst der innenpolitische Druck auf den US-Präsidenten, seine Truppen so bald wie möglich aus dem Irak abzuziehen.

Militärische Unterstützung hat Merkel so kategorisch ausgeschlossen wie ihr Amtsvorgänger. Aber sie muss einkalkulieren, dass die USA mehr erwarten als die jährlichen 200 Mio. Euro Hilfe. Merkel und Steinmeier steht hier ein heikler Balanceakt bevor. Zum einen haben sie versucht, auf die Erwartungen der USA teilweise einzugehen, etwa bei der Unterstützung der Arbeit der Geheimdienste. Zum anderen wissen sie genau um die Skepsis in der deutschen Bevölkerung gegenüber einem engeren Schulterschluss mit den USA.

Beide Regierungen müssen Schritt für Schritt das so wichtige Vertrauen wieder aufbauen. Dazu gehört, die wichtigen Themen zunächst diskret, informell und ohne Tabus zu besprechen. Daneben gilt künftig: Weniger ist mehr! Zwar stimmen beide Seiten in vielen Zielen überein, sie entwickeln dafür aber unterschiedliche Instrumente und Strategien. Daher sollte man sich auf pragmatischen und strategischen Realismus verständigen: Fall für Fall ist unaufgeregt abzuklopfen, inwieweit Kooperation möglich ist. Nicht mehr bedingungslose Freundschaft, sondern bedingungslose Offenheit muss die transatlantischen Beziehungen künftig auszeichnen.


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