Was soll aus Europa werden?
Unvereinbare strategische Perspektiven treffen aufeinander - Von Prof. Dr. Werner Weidenfeld
21.12.2005 · Die Presse
Und Deutschland zahlt davon den Löwenanteil. So hatte es das prosperierende Deutschland über Jahrzehnte getan - und in diese Tradition stellt sich das hoch verschuldete Deutschland. Europa applaudiert, Angela Merkel wird von ihren Kollegen gelobt. - Dank an die Zahlmeisterin. Es bleibt mehr als nur ein fader Nachgeschmack. Die Großzügigkeit Deutschlands entfernt den Reformdruck von Europa. Stagnation erscheint damit vorprogrammiert.
Es gilt in solchen Momenten der vordergründigen Erleichterung den Blick auf die eigentlichen Kernprobleme zu richten:
Es scheint in der Sache nur wenig noch zusammenzugehen in Europa. Nach dem Scheitern der Verfassung kam der große Finanzstreit. Und vorher die Zweifel am Stabilitätspakt der gemeinsamen Währung, die Sorge um die Verkraftbarkeit der Beitrittswelle und schließlich die polarisierte Debatte um den Türkeibeitritt.
Während man sich beim Nein der Franzosen und der Niederländer noch darüber hinwegtrösten konnte, Europa sei in die Falle innenpolitischer Frustrationen gelaufen, da offenbart nun das unwürdige Geschacher um den mittelfristigen Finanzrahmen, dass die Krise die Tiefenschichten der europäischen Ratio erfasst. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in der letzten Woche in Brüssel wurde unmissverständlich deutlich, dass unvereinbare strategische Perspektiven aufeinander prallen. Während die einen nur in den Vereinigten Staaten von Europa eine Überlebenschance für den Kontinent sehen - so das jüngste Memorandum des belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt - sagt die britische Regierung, sie sei nur einem Binnenmarkt beigetreten. Diese tiefe Diskrepanz in der finalen Perspektive droht nun der Erfolgsgeschichte der Integration ein abruptes Ende zu bereiten. Unübersehbar ist mittlerweile, dass der integrationspolitische Grundkonsens der Vergangenheit angehört.
Vordergründig wird um Finanzen und Vertragstexte gestritten, im Kern geht es um antagonistische Zukunftsfixierungen. Solange dies nicht in aller Klarheit ausgesprochen wird, kann es auch keine positive Klärung der Dinge geben.
Vor diesem Hintergrund klingt es geradezu skurril, dass sich die Europäische Union selbst eine "Denkpause" verordnet hat - wo es doch eigentlich um die öffentliche Verständigung auf eine gemeinsame Zukunftsstrategie geht.
Ohne eine solche Verständigung wird das Europa der 25 erodieren, ja wahrscheinlich zerfallen. Ganz offenbar stehen wir vor einer Ära der Neu-Begründung Europas: Es ist zu entscheiden, was auf europäischer Ebene zu regeln ist und wer welcher Art von Kompetenzkreis angehören will. Es wird Kreise von unterschiedlicher Integrationsdichte geben und jeder Kreis wird die Entscheidungsprozeduren definieren, die er für effizient hält.
Diejenigen Staaten, die sich im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, sowie der Justiz- und Innenpolitik enger zusammenschließen wollen, muss die Möglichkeit hierzu eröffnet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die ökonomischen und politischen Potenziale der erweiterten Union voll ausgeschöpft werden können. Deutschland hat in diesem Prozess die Chance - mit einer kraftvoll auftretenden Kanzlerin Merkel - der Motor für die Neudefinition eines dynamischen und vielschichtigen Europas zu sein.
Auf das uniforme Groß-Europa der gestressten, ermüdeten und orientierungslosen Art wird so im positiven Falle eine neue politische Komposition folgen: Dem differenzierten Europa gehört die Zukunft.
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