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Wie die EU verfasst sein soll

Die Frage nach der Finalität der europäischen Einigung. Artikel von Werner Weidenfeld

20.08.2002 · Neue Zürcher Zeitung



Die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union hat nach Meinung des Autors in letzter Zeit erheblich an Dichte und Schärfe gewonnen. Die wachsende Intensität der Auseinandersetzung lasse große europapolitische Weichenstellungen erwarten. Versuche sind lanciert, der EU ein machtpolitisches und legitimatorische Gesicht zu geben. Dies kann über die symbolische Betonung intergouvernementaler Zusammenarbeit ebenso geschehen wie über die Fortsetzung der alten Idee supranationaler Integration.

Rufen wir uns in Erinnerung: Der Gipfel von Nizza hatte im Dezember 2000 bereits beschlossen, eine grundlegende Reform der EU-Verträge anzugehen. Der Gipfel von Laeken hat dann am 15. Dezember 2001 den Konvent, der diese Reform vorbereiten soll, einen unfassenden Fragenkatalog zur Bearbeitung aufgetragen. Und der Konvent spricht von Anfang an ungeniert von der Aufgabe, eine Verfassung für Europa auszuarbeiten. Damit ist die Europapolitik über eine Tabu-Grenze gesprungen, vor der sie bisher zurückgeschreckt ist. Folgerichtig beginnt allerdings sofort das Ringen um die Architektur des künftigen Gefüges der Institutionen und Kompetenzen. In Kreisen der Staats- und Regierungschefs wird die Vorstellung ventiliert, der Europäischen Union einen Präsidenten aus den Reihen des Europäischen Rates zu geben. Die EU-Kommission kontert mit der Aufwertung des Kommissionspräsidenten, der Konzentration der europäischen Außenpolitik bei der Kommission und der damit verbundenen Aufwertung des Europäischen Parlaments.

Die grundlegenden Alternativen

Beide Ideen lassen erkennen, dass die Europapolitiker nun Europa ein machtpolitisches und legitimatorisches Gesicht geben möchten. Und dies kann über die symbolische Betonung intergouvernementaler Zusammenarbeit ebenso geschehen wie über die Fortsetzung der alten Idee supranationaler Integration. Der Kampf um die Dominanz im Hause der EU ist eröffnet - sein Ergebnis ist offen. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich gerade jetzt die elementaren Alternativen in der Europapolitik auftun. Wir befinden uns in einer einzigartigen Konstellation, die Grundsatzentscheidungen unabdingbar macht:

  • Die erreichte Dichte der Integration ruft die Frage nach Finalität Europas auf.

  • Die mit der Erweiterung verbundene Entgrenzung der bisherigen Raumbilder des Einigungsprozesses macht die Frage nach der Identität Europas unausweichlich.

  • Die neue Dimension der Herausforderung weltpolitischer und sicherheitspolitischer Art stellt die Frage nach effektiver Handlungsfähigkeit Europas noch dringlicher.

  • Der Jahrhundertschnitt zur gemeinsamen europäischen Währung lässt die Frage nach einem stabilen politischen Rahmen geradezu alltäglich als existenziell erscheinen.

Gegenwärtig versucht die Europapolitik alles das konzeptionell und organisatorisch in den Griff zu bekommen. Dies erfordert eine politische Herkulesarbeit - aber die Geschichte gönnt Europa keine Ruhepause.

Schaffung von Transparenz

Wie soll Europa künftig verfasst sein? Die angemessene Antwort auf diese Frage muss zunächst bei den grundlegenden Defiziten der gegenwärtigen Europapolitik ansetzen. Was gilt es im Kern zu korrigieren?

Die Europäische Union ist intransparent. Die Grundlinien der Europapolitik sind mit den Römer Verträgen aus dem Jahr 1957 gezeichnet - adäquat für sechs Mitglieder und für eine bescheidene Kompetenzausstattung. Ein immenser Magnetismus hat im Laufe der Jahrzehnte aber immer mehr Aufgaben und immer mehr Mitglieder an die europäische Ebene gebunden. Dies alles geschah nicht nach einer planerischen Strategie, sondern durch dschungelhaften Wildwuchs. Aus politischen Ornament der fünfziger Jahre ist ein Kernstück politischer Machtarchitektur geworden - mit undurchschaubaren Grundlagen und Entscheidungen.

Die logische Konsequenz ist die Schaffung umfassender Transparenz. Der erste Schritt besteht in einer drastischen Vereinfachung der Verträge. Und hier kommt der Verfassungsvertrag in Spiel. Eine verständliche Verfassung ist geradezu das A und O für mehr Transparenz. Dies ist mit geringem Aufwand zu erreichen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn als Anker für diesen Prozess bietet sich eine Zweiteilung der bisherigen Verträge an:

  • In einem europäischen Grundlagenvertrag sollten die maßgeblichen Unionsziele, die Grundrechte und -werte, die Kompetenzordnung, das Institutionsgefüge, die Entscheidungsprozesse sowie die Finanzordnung zusammengefasst werden. Die in Nizza verabschiedete Grundrechtscharta sollte Teil des Grundvertrages werden. Eine Änderung der Bestimmungen des Grundlagenvertrages muss konstitutionellen Anforderungen genügen und einen Ratifikationsprozess in allen Mitgliedsstaaten durchlaufen.

  • Die Vielzahl an Ausführungsbestimmungen sowie organisationsrechtliche Artikel sollten in einem gesonderten Vertragsdokument zusammengefasst werden. Für diesen Bereich könnte ein vereinfachtes Änderungsverfahren im Wege von Mehrheitsentscheidungen, unter parlamentarischer Beteiligung und Kontrolle, eingeführt werden. Voraussetzung dafür sind wiederum, dass über den Weg der Kategorisierung eine klare Kompetenzordnung geschaffen wird.

Ein solcher Grundvertrag erleichtert es den Bürgern Europas, die politische Ordnung der EU zu verstehen und sich mit Europa zu identifizieren. Die europäische Gesetzgebung wäre auf der Basis der Ausführungsbestimmungen rascher in der Lage, auf veränderte Anforderungen zu reagieren. Wenn die Ziele, die Zuordnung und die Prinzipien der Zuständigkeit im ersten Teil präzise geregelt sind, ist mit einer Zweiteilung der Verträge auch nicht die Gefahr einer schleichenden Zentralisierung verbunden. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten und die nationalen Parlamente behalten ihre entscheidende Rolle in der Fortentwicklung dieser Verfassungsgemeinschaft.

Ineffiziente Entscheidungen

Dutzende verschiedener Entscheidungsverfahren verhindern heute klare Verantwortlichkeiten und zügige Ergebnisse. Der wachsende Problemdruck macht aber schnelles Handeln notwendig. Die Reduzierung auf wenige einfache Verfahren drängt sich deshalb geradezu auf.

In der Regel sollte das Mitentscheidungsverfahren angewandt werden, da es am besten das Zusammenspiel von Kommission, Parlament und Rat im Gleichgewicht hält. Die demokratische Legitimation und Personalisierung europäischer Gesetzgebung sollte dadurch verbessert werden, dass der Kommissionspräsident aus den Europawahlen hervorgeht, indem er von einer Mehrheit der von den Bürgern direkt eingesetzten Europaparlamentarier gewählt wird. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um das Eigeninteresse europapolitischer Entscheidungsträger zu erhöhen, sich über die Medien an die nationale Öffentlichkeit zu wenden.

Auch im Rat sollten Veränderungen erfolgen. Vor allem das Nebeneinander der Fachministerräte hat eine extensive Nutzung vertraglicher Handlungsbefugnisse und die Verabschiedung sich widersprechender Entscheidungen begünstigt. Die Begrenzung der Anzahl der Ressortministerrunden sowie ihre Unterordnung unter den Allgemeinen Rat als die wesentliche Koordinations- und Gesetzgebungsinstanz würde die Abstimmung und Kohärenz europäischer Gesetzgebungsaktivitäten deutlich verbessern. Die Zusammensetzung des Allgemeinen Rates und eines Rates der Außenminister könnte dazu entkoppelt werden. Für den Erfolg solcher Reformen wäre es günstig, wenn sie auf Seiten der Mitgliedsstaaten durch eine effektive innere Koordination der Europapolitik ergänzt würden - unabhängig davon, ob dafür das Amt eine Europaministers vorgesehen wird oder andere Wege gefunden werden. Im Falle von Zuständigkeitskonflikten zwischen den Mitgliedsstaaten der EU sollte auch künftig der Europäische Gerichtshof verantwortlich sein. Die Schaffung neuer Institutionen bietet hier keinen erkennbaren Zugewinn für die Effizienz und Legitimität der Streitschlichtung.

Wachsende Akzeptanzprobleme

Wer sich die Unfragedaten zu Europa aus zurückliegenden Jahrzehnten nochmals anschaut, der wird sich die Augen reiben. Der damals umfassenden Zustimmung zur Integration in den Mitgliedsstaaten folgte eine kontinuierlich absteigende Kurve, die heute einer höchst differenzierten, in erheblichen Teilen distanzierten Haltung gewichen ist. Die Legitimation der EU ist ganz offenbar erodiert. Das kann nicht verwundern, wenn man sich die Union als Organisation intransparenter Verwischung von Verantwortung vor Augen führt.

Klare Verantwortlichkeiten zu schaffen wird daher zum Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit der EU. Als Ansatz für eine nachvollziehbare und politisch durchsetzbare Arbeitsteilung bietet sich eine Kategorisierung der Zuständigkeiten an, die die jeweilige Intention und Reichweite europäischer Eingriffsbefugnisse in den Blick nimmt. Sie ordnet die einzelnen Politikfelder nicht nach dem bisherigen Prinzip der Einzelermächtigung, sondern anhand klar definierter Aufgabenkategorien. Als Kategorien bieten sich konstitutionelle Bereiche, ausschließlich Zuständigkeiten der europäischen Ebene, gemeinsam ausgeübte Politiken, ergänzende und unterstützende Maßnahmen der EU sowie rein koordinierende Aufgaben an:

  • Konstitutionelle Bereiche: Hierunter fallen alle Bestimmungen, die die Aufgabenverteilung, die Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten oder den Beitritt von Mitgliedern regeln. Vertragsänderungen auf diesen Gebieten bedeuten einen substanziellen Eingriff in die Grundlagen des Einigungsprozesses.

  • Ausschließliche Politiken: Dies sind die Politikbereiche, die zur Verwirklichung der Zollunion, im Rahmen der Währungsunion sowie zur Gewährleistung des Binnenmarktes vollständig auf die europäische Ebene übertragen worden sind.

  • Gemeinsame Politiken: Hier handelt es sich um jene Aufgabenfelder, die zur Umsetzung der elementaren Vertragsziele - wie der Vollendung des Binnenmarktes und der vier Marktfreiheiten, einer nachhaltigen Umweltpolitik, des Diskriminierungsverbotes oder des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - auf Grund eines grenzüberschreitenden Bezuges gemeinsam ausgeübt werden.

  • Ergänzende Politiken: Die EU wird in Bereichen wie Sozialpolitik, Bildung, Kultur, Gesundheit, Verbraucherschutz, Industrie oder Forschung und Entwicklung unterstützend, fördernd und ergänzend tätig, und zwar insoweit, wie eine EU-weite Regelung einen Mehrwert für die Mitgliedsstaaten ergibt.

  • Koordinierte Bereiche: Dies sind explizit keine Gemeinschaftskompetenzen. Die EU und ihre Organe können unterstützend beteiligt werden, stehen aber letztlich nicht in der politischen Verantwortung. Derzeit steht die Beschäftigungspolitik im Vordergrund der Koordinierung. In diese Kategorie fallen auch Bereiche wie der Katastrophenschutz oder der Fremdenverkehr.

Eine Neuordnung nach diesem Ansatz schafft erheblich mehr Transparenz, ohne dass dafür eine substanzielle Umverteilung der heutigen Kompetenzen notwendig wäre. Sollte es der EU gelingen, in den nächsten beiden Jahren die Frage nach ihrer Verfasstheit in einer solche Art zu beantworten, dann wird man von einem Erfolg sprechen müssen. Sollte dieser Versuch jedoch misslingen, dann lauern in den Kulissen der internationalen Politik etliche Alternativen zur Integration: die Wiederkehr des Nationalismus, die Erosion der Union, die Entsolidarisierung des Gemeinschaftswerkes. Ein Blick in die Geschichte Europas zeigt, dass das Arsenal an Krisen und Katastrophen geradezu erschöpflich ist. Die Europäer sind also gut beraten, die kulturelle Leistung einer Verfassungsordnung zu erbringen.


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