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Wohin Washington will, bleibt unklar

Hat der 11. September den amerikanischen Unilateralismus beendet? Zweifel sind erlaubt

Von Werner Weidenfeld

12.11.2001 · Die Welt



München - Deutschland zeigt uneingeschränkte Solidarität mit Amerika. Soldaten der Bundeswehr kämpfen Seite an Seite mit den amerikanischen Streitkräften. Viele Beobachter sehen darin den Beginn einer neuen Ära deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit. Eine neue atlantische Gemeinschaft könnte entstehen. Aus gemeinsamer Verantwortung im Kampf gegen den Terror könnte eine atlantische Zukunftsarchitektur entworfen werden. Die Frage stellt sich: Ist dies eine wirklichkeitsgerechte Vision?

Die deutsch-amerikanische Medaille hat zwei Seiten: Da ist die alte Traditionslinie der Nachkriegszeit. Eine verlässliche Beziehung ist entstanden, nicht zuletzt weil die Amerikaner die Freiheit und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland garantiert haben. Florierende Handelsbeziehungen, große Direktinvestitionen, umfassender Kulturaustausch mit Tausenden von Stipendien und Wissenschaftskonferenzen - das alles ist Teil einer Erfolgsgeschichte, die auch nicht von einzelnen Handelskonflikten und sicherheitspolitischen Meinungsverschiedenheiten wirklich im Kern beschädigt werden konnte. Doch da sind auch die Erosionserscheinungen: Die alte Atlantiker-Generation ist aus den Führungsetagen verschwunden. Nachlassendes Interesse am Partner nach Ende der existenziellen Bedrohung durch die Sowjetunion wird spürbar. Im Gefolge der Entdramatisierung der Lage wuchs die Gleichgültigkeit. In logischer Konsequenz erhielten Meinungsverschiedenheiten ein größeres Gewicht. Klimaprotokoll, Todesstrafe, Missile Defense System - alles das warf spürbare Schatten. Da half auch kein nostalgisches Pathos weiter.

Der 11. September könnte dies alles geändert haben. Die neue, große gemeinsame Herausforderung - vergleichbar der alten Bedrohung durch die Sowjetunion - ist unmittelbar greifbar. Die Erkenntnis, dass selbst der mächtigste Staat der Welt nicht mehr die Sicherheit seiner Bürger garantieren kann, wäre Anlass genug für ein Umdenken der amerikanischen Politik. Der Abschied vom Unilateralismus und die Rückkehr zum Multilateralismus wäre angezeigt.

Der Terror ist mit seinem professionellen globalen Netzwerken von keiner Macht im Alleingang zu besiegen. Der Logik des amerikanischen Unilateralismus sind damit die Grundlagen entzogen. Aber es bleibt die Frage, ob die politische Kultur der Amerikaner wie der Deutschen eine solche Wendung nimmt. Bei näherem Hinsehen hat Washington die Antwort auf den Terrorismus bisher unilateral formuliert - und dann anschließend internationale Unterstützung eingefordert. Sie haben Afghanistan zum Ziel erklärt, das zu bombardieren sei - und erst dann den Nato-Verteidigungsfall ausrufen lassen. Dieses symbolhafte Vorgehen findet sich auch in allen anderen Facetten der Terrorbekämpfung wieder.

Eigentlich wäre es die Stunde, in der eine transatlantische Strategiegemeinschaft aufzubauen wäre: eine gemeinsame Strategie zur sicherheitspolitischen Bekämpfung des Terrors, ein gemeinsamer Plan zur entwicklungspolitischen Bekämpfung der Armut und ein gemeinsames Projekt für die Transformation der fundamentalistisch gefährdeten Regionen. Die amerikanische wie europäische Ratlosigkeit, was mit Afghanistan nach Ende des Krieges zu geschehen habe, ist geradezu ein Menetekel. Offenbar ist die westliche Welt bis heute nicht in der Lage, die Ziele, Kriterien und Entwicklungsschritte einer vernünftigen Transformation zu benennen, nicht nur für Afghanistan, sondern für viele andere Staaten ebenso.

Für eine atlantische Kooperation bieten sich also große historische Notwendigkeiten. Die Chancen sind konkret greifbar - aber ebenso unübersehbar sind die Zweifel, ob die Möglichkeiten auch wirklich genutzt werden.


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