Eine Art Erosion der Politik
Forscher Werner Weidenfeld kritisiert Spitzenpersonal und Parteien
21.08.2010 · Weser Kurier
Der Münchener Professor Werner Weidenfeld geht mit den deutschen Spitzenpolitikern hart ins Gericht. Er sieht bei den Politikern egozentrische Profilierungsaktivitäten, aber kaum Ideen für die Zukunft. Unser Korrespondent Ralf Müller hat mit dem Forscher gesprochen.
Weser Kurier: Herr Professor Weidenfeld, die Deutschen sind mit ihren Regierenden immer unzufriedener. Auch in anderen Demokratien lässt sich das beobachten. Was steckt hinter dieser Frust-Demokratie?
Werner Weidenfeld: Zum einen handelt es sich um eine fast traditionelle Kurvenbewegung von Zustimmung bis Distanzierung der Wähler, die auch in früheren Wahlperioden zu beobachten war. Darüber hinaus findet jedoch eine Art Erosion der Politik statt. Der Blick auf die Tiefendimension muss uns mit einer gewissen Besorgnis erfüllen. Oberflächlich kann es geradezu beglückend sein, wenn in einer Event-Gesellschaft pausenlos irgendetwas passiert: Der Bundespräsident tritt zurück, Ministerpräsidenten treten zurück, daneben Rente mit 67, Wehrpflicht, Atomenergie, neuer Regierungssprecher und so weiter statt des früheren Sommerlochs geradezu ein politischer Festspielsommer.
Weser Kurier: Aber so leicht kann man das wohl nicht nehmen?
Weidenfeld: Wenn wir den Blick auf die Tiefendimension richten, wird klar, dass sich mehr in der Gesellschaft verändert. Die Distanz zwischen Bürger und politischer Klasse war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so groß wie heute: Vertrauen in die Politik auf dem niedrigsten Stand, Bindewirkung der Parteien dramatisch geschrumpft, Wahlteilnahme im Sinkflug das zeigt das empirische Datenmaterial.
Weser Kurier: Und woher kommt das?
Weidenfeld: Dahinter steckt so etwas wie eine politische Orientierungskrise. Die Politik ist situativ geworden. Im Vordergrund stehen pragmatische Problemlöser ohne Botschaft, ohne ein Bild der Zukunft. Daraus ergibt sich ein Erklärungsdefizit. Es fehlt aber nicht nur die Botschaft, sondern auch der Mannschaftsgeist, eine solche Perspektive zu realisieren. Im Moment dominiert eine Form egozentrischer Profilierungsaktivitäten. Sie finden den Mannschaftsgeist nicht einmal mehr innerhalb einer Partei. Das führt zu einer völlig verwirrenden Situation und zur Entfremdung der Bürger von der Politik.
Weser Kurier: Wer hätte es denn heute in Deutschland im Kreuz, die Menschen wieder für eine große Idee zu begeistern? Die Kanzlerin ja offensichtlich nicht. Der große Star ist ja derzeit der Verteidigungsminister zu Guttenberg.
Weidenfeld: Die Kanzlerin ist eine Technikerin, der diese Art Denken in strategischen Botschaften abgeht. Das macht sie nicht zu einer schlechten Politikerin, aber die grundsätzliche Erosion der Republik hält sie mit dieser Machttechnik nicht auf. Guttenberg hat natürlich jetzt eine riesige Aufgabe mit der Bundeswehrreform, was ein Härtetest für ihn sein wird. Wenn Guttenberg ein Gesamtbild der sicherheitspolitischen Zukunft bietet, hat er eine Chance, das Erklärungsdefizit der Politik zu überwinden und eine Meisterprüfung abzuliefern. Aber bisher hat er auch nur Details zugerufen.
Weser Kurier: In Berlin gibt es eine Koalition, die beide Partner als Wunschkoalition bezeichnet haben und dennoch geht wenig zusammen. Woran liegt das?
Weidenfeld: Das ist eine Folge der Veränderung hin zu den egozentrischen Profilierungskämpfen, die jetzt das Strickmuster der Politik bestimmen. Das gilt ja nicht nur für die Koalition, sondern sogar für die Opposition, wo sich im Moment ein Kampf zwischen Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier abspielt. Das hat man früher alles in eine Art Teamgeist eingebunden, auch wenn man konzeptionell gegensätzlicher Auffassung war. Heute werden ihnen Indiskretionen aller Art, nach denen sie gar nicht gefragt haben, pausenlos zugetrieben. Deshalb stammt auch der Begriff Wunschkoalition aus einer anderen Kategorie. Die Große Koalition von 2005 war keine Wunschkoalition, hat aber vergleichsweise gut kooperiert. Es ist also keine Frage von Wunsch oder Nichtwunsch.
Weser Kurier: Die Art, wie derzeit Politik gemacht wird, behagt den Menschen ganz offensichtlich nicht. Wie groß ist ihre Hoffnung, dass man von den egozentrischen Profilierungsaktivitäten wieder wegkommt?
Weidenfeld: Wenn die Politiker ihre Lernfähigkeit beweisen. Wieso sollte ein Politiker grundsätzlich unfähig sein, diese Problemlandschaft zu erkennen und eine Antwort darauf zu praktizieren. Diese Chance besteht immer. Alles kann wieder korrigiert werden. Deshalb ist auch der pausenlos ausgerufene Satz falsch, dieses oder jenes sei alternativlos. Das ist eher ein Beleg der Ratlosigkeit. In der Politik haben Sie zu allem und jedem immer eine Alternative. Wir brauchen eine Strategie, die authentisch und zuverlässig umgesetzt wird. Die Politik darf nicht zusammenhanglos, sprunghaft, situativ agieren.
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