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Lissabon-Urteil wird ein Spagat

Interview mit Werner Weidenfeld

Der Politologe Werner Weidenfeld erwartet vom Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag einen Spagat und hält die Ernennung der EU-Kommissare für ein Hinterzimmerverfahren.

25.06.2009 · EurActiv.de



EurActiv.de: Die Nominierung der Kommissare und des Kommissionspräsidenten läuft nicht so ab, dass die Öffentlichkeit gefesselt wird...

WEIDENFELD:
Ja, weil es zu sehr ein „Hinterzimmerverfahren“ ist statt einer wirklich transparenten, großen öffentlichen Auseinandersetzung. Das Verfahren an sich halte ich nicht für kritikwürdig: Da wird ein Spitzenkandidat vorgeschlagen, so wie in der Bundesrepublik der Präsident auch den Kanzler oder die Kanzlerin vorschlägt; dann muss das Parlament zustimmen - wie im Bundestag auch. Das Europaparlament hat sogar eine weitere Funktion: Es hat der gesamten Mannschaft der Kommission zuzustimmen, und dieses Recht wird durchaus auch so vermittelt. Wenn man also gegen einen oder zwei Kommissare etwas hat, wird die gesamte Kommission zurückgezogen.

Wäre dieser Machtprozess transparenter und offener, wäre es ein gutes Verfahren. Aber die sind noch nicht so weit. Es ist noch zu sehr dieses „Fädenspinnen hinter den Kulissen“. Dieses Mal kann es noch zu Kontroversen kommen zwischen Parlament und Rat, zwischen dem Vertrag von Nizza und Lissabon. Da kann es noch einmal zu einer besonderen Situation, ja zu einem Schraubendrehen kommen. Aber die Transparenz ist noch nicht gegeben.

EurActiv.de: Was erwarten Sie vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag, das am 30. Juni in Karlsruhe gefällt wird?

WEIDENFELD:
Ich erwarte ein Urteil, das ich als Spagat bezeichnen möchte. Nämlich einerseits den Vertrag als grundgesetzkonform zu beurteilen, andererseits einige Auflagen zu formulieren, wie künftig der Bundestag mit eingebaut sein muss, um seine Kompetenzen zu wahren.

EurActiv.de: Welche Lehren sind aus der Europawahl zu ziehen?

WEIDENFELD:
Die Europäische Union muss mobilisierungsfähiger werden. Dazu wird sie die großen sachlichen Perspektiven und Alternativen, die sich in der EU-Politik stellen, intensiver vermitteln müssen. Europa braucht außerdem eine weiterführende Personalisierung, braucht konkrete Gesichter. Um dies zu erreichen, wird eine Politisierung dieser Sachverhalte unvermeidbar sein. Die EU wird sich als Strategiegemeinschaft sehen müssen. Zusammengeführt würden sich die Europäer auch im Kontext von Europawahlen intensiver zuhause fühlen als bisher.

EurActiv.de: Warum ist man nicht schon früher darauf gekommen?

WEIDENFELD:
In Ausschnitten hat es solche Ideen immer gegeben, aber die Politik ist immer wieder zur Routine zurückgekehrt. Es ist immer das Gleiche, auch bei nationalen oder regionalen Wahlen. Unter dem direkten Eindruck des Wahlergebnisses wird jedes Mal gesagt: Jetzt müssen wir uns mit den Konsequenzen beschäftigen. Doch das passiert anschließend nie. Man geht zur Routine über und setzt darauf, dass alles schnell wieder vergessen ist.

EurActiv.de: Welche Schwerpunkte kann man von der neuen Kommission erwarten?

WEIDENFELD:
Ich erwarte Initiativen und Impulse für die wirklich interessanten, großen Themen, die für Europa anstehen. Die Umsetzung des anstehenden Stockholm-Programms mit dem Thema Migration ist ein großes weltpolitisches Thema. Da erwarte ich kreative, intensive Impuse. Das gleiche gilt für Energie- und Klimapolitik und für die Intensivierung der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung.

Ich würde mir auch eine offene Koordinierung in der Gesundheitspolitik wünschen. Das ist ein großes Thema der europäischen Gesellschaften mit weitestgehend nationalen Zuständigkeiten, die aber das Problem nicht mehr bewältigen können. Denken Sie an die jetzige Epidemie: Bis gestern wollten die Gesundheitspolitker alles auf nationaler Ebene machen, und jetzt soll alles europäisch geregelt werden. Da hätte man mit einer offenen Koordinierung doch ein sehr flexibles Instrument.

Ein weiteres flexibles Instrument könnte eine Intensivierung der verstärkten Zusammenarbeit sein. Es gibt eine Reihe thematischer wie strategischer Möglichkeiten, wenn sich die Kommission nicht im „Alltags-Klein-Klein“ verliert. Das ist immer wieder ein Problem, wenn sich eine zur Führung aufgerufene  Institution in der Routine des Alltags erschöpft. Dann greift sie zu kurz. In dieser Bemerkung steckt natürlich auch die Kritik an der bisherigen Kommision, die vielen als zu passiv erschien.

EurActiv.de: Auch Ihnen?

WEIDENFELD:
Ja. Sie war strategisch zu passiv.

EurActiv.de: Wird die Wirtschaftskrise die EU eher in eine zentralistische Richtung zwingen oder kommt es zu mehr Dezentralismus?

WEIDENFELD:
Das ist kein Gegensatzpaaar, das für diesen immensen Problemdruck angemessen ist, der auf Europa lastet. Da wäre der Begriff Effektivitätssteigerung besser. Die Lösung ist eben nicht, dass alles zentralisiert werden oder dass man jetzt stärker die Subsidiarität pflegen muss, sondern dass man unter diesem aktuellen Druck die Abstimmungs- und Koordinierungsmaßnahmen intensiviert und verdichtet. Davon geh ich aus, weil doch alle gemeinsam Interssse an der Lösung dieser gigantischen Krise haben.

EurActiv.de: Wie bewerten Sie die Krisenpolitik der deutschen Regierung?

WEIDENFELD:
Die Bundesregierung hat situativ richtig gehandelt, aber strategisch unterbelichtet. Es hat ja gar keine Strategiedebatte stattgefunden. Und die Regierung hat auch noch nicht gesagt, was aus allem, was sie getan hat, in den nächsten vier, fünf Jahren wird. Sie hat nur versucht, die Krise des Augenblicks zu entdramatisieren.

EurActiv.de: Halten Sie das Zusatzabkommen für Irland für bedenklich?

WEIDENFELD:
Nein. Denn mit dem Zusatzabkommen werden die Vorbehalte der Iren gegen den Vertrag vor dem Hintergrund einer im Grundsatz europafreundlichen Stimmung in Irland entkräftet. In Irland hatte es ja verschiedene scharfe Vorbehalte gegen Einzelpunkte gegeben. Die waren aber gar nicht gerechtfertigt. Der Vertrag von Lissabon gab keinen Anlass dazu. Das gegenüber den Iren nochmals zu klären, ist unproblematisch und nicht ungewöhnlich. Man hat ja bei früheren Verträgen mit Dänemark, Großbritannien und anderen mit sogar noch weiter gehenden Korrekturen dasselbe gemacht. Das Zusatzabkommen dient also der Klärung und nicht der wirklichen Korrektur des Vertrags.

EurActiv.de: Benötigt man nach der Schwarzmeer- und der Mittelmeerstrategie auch eine Ostseestrategie?

WEIDENFELD:
Ich empfehle, solche strategischen Elemente zu forcieren. Die europäische Integration ist seit geraumer Zeit strategisch unterbelichtet. Da verliert man sich in sehr viel komplexem Alltagsmanagement, statt perspektivisches Strategiemanagement zu pflegen. Aber es gibt Schritte, die immerhin der Versuch eines Ansatzes zu einer Strategie sind. Dazu gehören die Mittelmeerunion, die Östliche Nachbarschaft, dazu würde auch die Ostseestrategie gehören.

Die Außenpolitik der EU braucht solche strategische Abfederungen und muss auch strategische Partnerschaften aufbauen und pflegen wie EU – China, EU - Indien, EU – Russland, EU – Brasilien, EU - Arabischer Raum usw. Das wäre eine Komplettierung für weltpolitische Mitverantwportung. Das ist mehr, als immer nur auszurufen: Soll ein Land Mitglied werden oder nicht?

EurActiv.de: Womit hat die EU unter der neuen US-Administration zu rechnen?

WEIDENFELD:
Stärker zu weltpolitischer Mitverantwortung herangezogen zu werden. Die Amerikaner stecken ja genau in diesem Erfahrungshorizont, dass sie einerseits führende Weltmacht sind, andererseits aber nicht die ganze Welt allein organisieren und ausgestalten können, sondern dass sie dazu strategische Partner brauchen. Ein Spitzenpartner für die Amerikaner ist der europäische Partner. Und wenn die Amerikaner Europa brauchen, dann ist aus ihrer Sicht Deutschland eine sehr wichtige Macht, die sie dafür heranziehen.

EurActiv.de: Ist Europa schon so weit?

WEIDENFELD:
Nein, aber es ist auf dem Weg dazu. Die Europäer wissen, dass sie nur mit weltpolitischer Mitverantwortung ihr eigenes Schicksal positiv für die Zukunft ausrichten können. Das muss sich aber entwickeln. Das geht nicht über Nacht. Dafür braucht Europa die Zusammenarbeit der strategischen Schlüsselfiguren, daraus muss sich ein Stück Konsens ergeben, daraus muss sich eine gemeinsame Art von Interessenshierarchie ergeben, und damit kann man im Alltag Politik machen. Das ist der Aufbau einer EU als Strategiegemeinschaft. Das ist eine ernsthafte, große Aufgabe.

EurActiv.de: Wie lautet Ihr Urteil über die tschechische EU-Präsidentschaft und was erwarten Sie von der schwedischen?

WEIDENFELD: Die Präsidentschaft Tschechiens ist für den ersten Teil besser abgelaufen, als viele vorher erwartet haben. Sie ist dann in eine unnatürliche Schwächung hineingeraten durch den Regierungswechsel. Für Schweden gibt es Erwartungen etwa zum Stockholm-Programm und Migration, ein großes Thema. Auch die Ostseepartnerschaft. Ansonsten erwartet man, dass die Schweden das alltägliche Handwerkszeug gut erledigen.

Interview: Isabel Robles, Ewald König


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