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Wie geht es weiter?

Ein Interview zur Krise der EU mit Matthias Chardon

Der Vertrag von Lissabon sollte dafür sorgen, die EU handlungsfähiger zu machen. Auch nach dem Nein von Irland?

18.06.2008 · ZEIT online



ZEIT online: Nein in Dublin, Panik in Brüssel: Warum?

Matthias Chardon: Wenn man bedenkt, dass der Vertrag von Lissabon eine fast zehn Jahre lange Phase der Überlegungen und Verhandlungen zum Abschluss bringen sollte, dann ist es verständlich, dass sich in Brüssel Panik breit macht. Nach dem die Verfassung scheiterte, begann die Phase der Reflexion, die zum Vertrag von Lissabon führte – mit teils sehr harten Verhandlungen. Und jetzt wieder ein großer Scherbenhaufen? Das ist eine zutiefst frustrierende Erfahrung.

Ziel war es ja, die EU handlungsfähiger, demokratischer zu machen und ihr dort mehr Kompetenzen zu geben, wo die Bürger das auch wollen. Und das wurde auch im Großen und Ganzen erreicht. Um so unverständlicher ist es, dass die Iren "Nein" gesagt haben.

ZEIT online: Politiker sprechen von einer Krise in der EU, mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann. Das hört sich dramatisch an.

Chardon: Man kann derzeit tatsächlich nicht sagen, was passieren wird. Eventuell werden Großbritannien und die Tschechische Republik den Ratifikationsprozess stoppen – in diesem Fall wäre der Vertrag von Lissabon endgültig tot. Der Nizza-Vertrag würde weiterhin gelten. Dieser Vertrag aber ist schwerfällig und auch nicht sonderlich transparent. Das könnte zu größerer Handlungsunfähigkeit der Union führen. Angesichts globaler Herausforderungen kann sich das die EU nicht leisten.

Es wäre auch denkbar, dass einige Staaten sagen, jetzt gehen wir einfach alleine voraus, der Zusammenhalt der Union wäre gefährdet, wenn solche Projekte – ein differenziertes Europa – unvorsichtig angepackt werden. Gleichzeitig sollte aber der Ratifikationsprozess fortgesetzt werden, um wenigstens die Chance zu haben, Irland noch einmal zu fragen, wenn alle anderen ratifiziert hätten.

ZEIT online: Der französische EU-Minister Jouyet sprach von möglichen "juristischen Arrangements" mit Irland. Ist es überhaupt möglich? Wie würde dieses Arrangement aussehen?

Chardon: Wie ein solches Arrangement aussehen könnte, kann derzeit nicht gesagt werden. Es wären jedenfalls hochkomplexe juristische Kniffs notwendig, die angesichts der Legitimitätskrise, in denen die EU sowieso schon steckt, nicht wünschbar sind. Man könnte den Iren den Vertrag allenfalls ein zweites Mal vorlegen und dazu einige Erklärungen, die auf die Bedenken der irischen Wähler eingehen. Den Bedenken wurde aber bereits weitgehend Rechnung getragen – wie etwa durch Erklärungen zu Irlands Neutralität.

ZEIT online: Wie geht es weiter? Schließlich befindet sich die EU abermals in der Situation von 2005, als die Franzosen und Holländer nein gesagt haben. Da hat eigentlich auch Europa funktioniert.

Chardon: Es stimmt, die EU funktioniert auch mit dem Vertrag von Nizza, aber weniger demokratisch, weniger transparent und mit weniger Kompetenzen in Feldern, in denen die EU laut Umfragen in der europäischen Bevölkerung mehr tun sollte. Die französische Ratspräsidentschaft muss jetzt jedenfalls diese Frage zum absoluten Schwerpunkt machen und gemeinsam mit anderen die Rettung von Europas Zukunft organisieren.

ZEIT online: Die Völker sagen Nein zur EU, die Elite ja. Woran liegt es, dass Europa nicht ankommt – trotz aller Leistungen?

Chardon: Da gibt es mehrere Gründe. Europa wird nicht richtig kommuniziert. Schauen Sie sich die Lehrpläne an, da kommt Europa zu wenig vor. Die politischen Parteien tun zu wenig dafür, im nationalen Rahmen europäische Debatten zu führen – denn das ist derzeit das einzig realistische, es gibt ja keine echte europäische Öffentlichkeit. Außerdem fehlen Europa das Gesicht und die traditionelle parlamentarische Auseinandersetzung, die es braucht, um Bürgern Identifikation zu ermöglichen.


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