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Deutsche Kontraste nach 20 Jahren Einheit

Zweite Autorenkonferenz für das Publikationsprojekt "Deutsche Kontraste. Ein Handbuch 1990-2010"

09.12.2009 · Forschungsgruppe Deutschland



Zum Zeitpunkt der deutschen Einheit, vor beinahe 20 Jahren, sahen sich Politik und Wirtschaft, aber auch Kultur und Gesellschaft gewaltigen Aufgaben ausgesetzt: Es galt, die schließlich fünf neuen Bundesländer und 16 Millionen neuen Bundesbürger in die Bundesrepublik zu integrieren. Zugleich mussten neue gesamtdeutsche und europäische Lösungen erarbeitet werden, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Doch verlief und verläuft dieser Prozess keineswegs so reibungslos, wie anfangs angenommen. Unterschiede zwischen Ost und West werden in der medialen Öffentlichkeit weiterhin betont und gepflegt. In der Wissenschaft hingegen beginnt sich ein differenzierteres Verständnis für bestehende und neu entstehende Unterschiede zwischen Ost und West durchzusetzen.

Ausgangspunkt für eine Bewertung von zwei Jahrzehnten deutscher Einheit ist das politische und gesellschaftliche Bemühen, mit Kontrasten umzugehen. Kontraste sind hier als relevante, also folgenschwere Unterschiede in der Ausprägung eines Gegenstands zu verstehen. Dem Analytiker dienen sie als Instrument zur Schärfung der Wirklichkeitswahrnehmung: Kontraste werden definiert, um sie anhand der Lebenswirklichkeit im vereinten Deutschland prüfen und Trends im Zeitverlauf herausarbeiten zu können. Dabei sind solche Kontraste keineswegs nur zwischen Ost und West auszumachen, sondern überlagern sich vielfach.


Teilnehmer der Autorenkonferenz zum Buchprojekt "Deutsche Kontraste" am C·A·P

Diesem Design folgte die zweite Autorenkonferenz für das Publikationsprojekt "Deutsche Kontraste", an der ausgewiesene Experten der Bereiche Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur am 26. und 27. November teilnahmen. Das Buch, das vom C·A·P in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben wird, hinterfragt dabei Klischees, die seit der Wiedervereinigung kursieren. Ist beispielsweise das Bild des wirtschaftsschwachen Ostens, das einem ökonomisch starken Westen entgegengesetzt wird, ohne gesamtdeutsche Differenzierungen in Peripherie und Metropolregionen aussagekräftig? Oder ist die pauschale Vorstellung eines "atheistischen Ostens" auch bei Hinzuziehung eines gesamtdeutschen Nord-Süd-Vergleiches zu halten?

Alle Experten verdeutlichten gleichermaßen, dass unter Berücksichtigung solcher Kontrollvariablen gängige Vorstellungen vom Stand der Inneren Einheit Deutschlands zu hinterfragen sind. Manche Unterschiede zwischen Ost und West lösen sich zunehmend auf oder schwächen sich ab, andere dagegen erweisen sich als hartnäckig. Das Spezifische am "Osten" bleibt geknüpft an subjektive Wahrnehmungen und Einstellungen, wie das vom Westen zu unterscheidende Bedürfnis nach Gleichheit und das Verständnis von Gerechtigkeit. Eben solche Orientierungen münden in einer durchaus dauerhaften "ostdeutschen" Erwartungshaltung an den gesamtdeutschen Staat und seine Politik. Eine Bewertung deutscher Kontraste darf sich daher nicht mit der Analyse objektiver Anpassungsleistungen wie der ostdeutschen Strukturstärke oder Einkommensverteilung begnügen. Vielmehr muss ebenso der Frage nachgegangen werden, inwieweit Ost- wie Westdeutsche in ihren Einstellungen, Meinungen und Orientierungen im vereinten Deutschland "angekommen" sind.

Auch die Autorenkonferenz "Deutsche Kontraste" bilanzierte keinen durchgängigen Angleichungstrend von Ost hin zu West in den vergangenen 20 Jahren. In einzelnen Bereichen wie Partizipation, Wohlstand, Gleichstellung, Migration, Identifikation oder Glaube erweisen sich die Veränderungen vielmehr als sehr viel diffiziler – kurz, der Osten ist kein "neuer Westen" geworden. Stattdessen ist zu konstatieren:

  • Erstens sind Dynamiken auch in Westdeutschland unverkennbar. Beispiele hierfür sind die sich schon in den 80er Jahren öffnende "Arm-Reich-Schere" oder gesellschaftliche Trends wie die Abnahme von Bindungen zu Parteien, Gewerkschaften und Kirchen. Als statisches Vergleichsobjekt dienen demnach die alten Länder nicht.
  • Zweitens besteht in mancher Hinsicht eine hohe Diversität innerhalb des Ostens selbst, vor allem zwischen Peripherie und Zentrum.
  • Drittens sind anhaltende gesamtdeutsche und europäische Prozesse zu beobachten, die dieses Jahr mit "Lissabon" einen weiteren Höhepunkt erreichten und Einfluss auf die Ausprägung von Ost-West-Unterschieden nehmen.

Hier schließt sich der Kreis zur Frage nach dem Stand des Einheitsprozesses: Sein Gelingen ist davon abhängig, in wie weit Erwartungen in Ost und West mit neuen räumlichen und ideellen Konstrukten in Einklang gebracht werden können.

Das von Werner Weidenfeld, Manuela Glaab und Michael Weigl herausgegebene Buch "Deutsche Kontraste. Ein Handbuch 1990-2010" erscheint im Sommer 2010 im Campus-Verlag.


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