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„Die Macht sucht sich ihre Wege“

Statements von Werner Weidenfeld nach dem Urteil zum Wegfall der 3%-Hürde für die EU-Wahlen

26.02.2014 · DIE ZEIT / dpa



Karlsruhe (dpa) - Bricht nach dem Wegfall der Drei-Prozent-Hürde im Europaparlament das Chaos aus? Klar ist: Vertreter kleiner Parteien müssen in den Praxistest.

Es ist nur ein Satz, den die Verfassungsrichter aus dem Europawahlgesetz streichen, und für einen Gesetzestext ist er nicht einmal besonders lang: "Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 3 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben."

Das war die Drei-Prozent-Hürde - jetzt ist sie Geschichte. Bei der nächsten Europawahl im Mai zieht jede Partei ins Parlament ein, die genug Stimmen für einen Sitz aufbringt.

Die Begründung: Das Parlament habe nicht genügend Kompetenzen, für die es auf stabile Mehrheitsverhältnisse ankommt - etwa die ständige Unterstützung einer handlungsfähigen Regierung. Das stößt auf Kritik: "Aus der Entscheidung spricht ein antiquarisches Bild des Europäischen Parlaments, das nicht der faktischen Rolle entspricht", sagt der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld.

Das Parlament stimme über den Kommissionspräsidenten ab, dann über die Regierungsmannschaft. "Dem Urteil liegt ein Missverständnis zugrunde: Die Richter haben noch nicht erfasst, was für ein gigantischer Machttransfer auf europäischer Ebene stattgefunden hat", meint Weidenfeld. "Es kommt nicht von ungefähr, dass jemand wie Müller, der einen Blick für Machtstrukturen hat, sich dem nicht anschließen kann."

Müller - das ist der ehemalige saarländische Ministerpräsident und jetzige Verfassungsrichter Peter Müller. Von allen Senatsmitgliedern ist er wahrscheinlich derjenige mit der stärksten politischen Prägung. "Dass der Verzicht auf Sperrklauseln und äquivalente Regelungen zu einer weiteren Zersplitterung des Europäischen Parlaments führen wird, ist evident", schreibt der frühere CDU-Politiker. Es bestehe das Risiko, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigt werde.

"Da sitzen jetzt schon Abgeordnete aus 160 nationalen Parteien, dann sind es noch ein paar mehr. Das wird für die Arbeitsfähigkeit nicht ins Gewicht fallen", meint hingegen der Göttinger Politologe Stephan Klecha.

"Damit wird in der Alltagsarbeit eine ständige große Koalition herbeigezwungen - was bedeutet, dass alles in der parlamentarischen Arbeit alles informell vorab geklärt wird", schätzt Werner Weidenfeld "Die Macht sucht sich ihre Wege."

Wie gut sich die neuen Abgeordneten einfügen, muss die Praxis zeigen. Die Vorsitzenden von ÖDP und Freien Wählern kündigten nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe an, ihre Abgeordneten würden sich jeweils bestehenden Fraktionen anschließen. Ach ja - vorher müssten sie gewählt werden. Aber daran haben Sebastian Frankenberger (ÖDP) und Hubert Aiwanger (Freie Wähler) wohl keine Zweifel mehr.

Die Europawahl werde jetzt für Wähler attraktiver, meint Frankenberger. "Die Wahlbeteiligung wird steigen." Das glaubt auch der Jenaer Staatsrechtsprofessor Michael Brenner. "Ich denke, dass das Urteil der europäischen Demokratie gut tun wird, weil es eine reale Möglichkeit schafft für kleine Parteien, sich im neu zu wählenden EU-Parlament wiederzufinden."

Auf eine hohe Wahlbeteiligung hofft auch Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Er hatte in der mündlichen Verhandlung im Dezember für den Erhalt der Hürde gekämpft. "Jetzt kommt es darauf an, dass wir für die Europawahl im Mai so mobilisieren, dass möglichst keine extremistischen Parteien ins Europaparlament einziehen."

Natürlich gibt es Sorgen, dass nun mehr Extremisten den Sprung ins Parlament schaffen. Politologe Weidenfeld sieht die Vertreter der Kleinparteien auch aus einem anderen Grund mit Skepsis: "Das sind größtenteils Leute, die ein Einzelanliegen haben. Die haben Freude daran, wenn sie ihren Auftritt haben, auch wenn kaum jemand zuhört."

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil eine Tür offen gelassen: Wenn sich die Aufgaben des Parlaments ändern oder sich doch in der Praxis zeigt, dass die Sache mit den vielen kleinen Parteien nicht funktioniert - dann könnte eine Sperrklausel wieder erlaubt sein.

"Das Europäische Parlament hat es nach der Europawahl aber auch in der Hand, selbst auf eine einheitliche europäische Sperrklausel hinzuwirken", regt der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Strobl, an. "Man könnte überlegen, die Sperrklausel zu europäisieren."


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